Asche ist reines Weiss

Für europäische Augen tut sich in China eine dystopisch anmutende Welt auf. Megastädte auf karge Felsen gesetzt. Einmal bitter kalt und dann wieder tropisch warm. Flüsse so grau wie der Himmel. Gigantische Bauprojekte, die das Leben von Millionen von Menschen verändern. Obwohl das Land so groß ist, immer dicht gedrängt. Dazwischen scheinbar unendliche unbewohnte Landschaften.

Für uns ist China ein Land unserer eigenen Projektionen. Als gäbe es nur einen richtigen Verlauf der Geschichte, wird jede Entwicklung an unserer eigenen Vergangenheit gemessen. In einem Rekordtempo scheint das Land die westlichen Entwicklungen der letzten hundert Jahre durchzumachen. Als wäre es eine Notwendigkeit. Dabei geht es den Menschen in China heute besser den je. Die Globalisierung hat ihren Anteil daran. Die Uhr an der Wand. Das Tippen dieser Zeilen auf der Tastatur. Das für uns so ferne und fremde Land ist schon lange in unsere privatesten Räume vorgedrungen.

Das entstandene Bild Chinas in unseren Köpfen ist aber immer eines aus zweiter Hand. Menschenrechtsverletzungen, die große Ungewissheit, was die Umsetzung einer alten Idee, einer 6000 km langen Handelsroute, die vielleicht einmal vor unserer Haustüre enden wird, für uns bedeuten wird und die totale Überwachung der Bevölkerung bestimmen die Tagespolitik. Doch was genau in den Menschen dort vorgeht, die bereits ein Fünftel der gesamten Weltbevölkerung ausmachen, wissen wir nicht.

Qiao (Zhao Tao) beschäftigt sich mit diesen Fragen nicht. In der chinesischen Provinzstadt ist sie die Geliebte eines Bandenführers. Sie genießt ihren Status an der Seite von Bin (Liao Fan), der sich mit Glücksspiel einen Namen gemacht hat. Ihre Liebe scheint bedingungslos. Das wird deutlich, als sie während eines Bandenkrieges einen Schuss in die Luft abfeuert und Bin so das Leben rettet. Mit fatalen Folgen für sie. Qiao muss ins Gefängnis. Fünf Jahre wird sie weggesperrt. Den Namen ihres Geliebten wird sie nie nennen.

Ein Schuss mit Folgen für Qiao.

Das Gefängnis ist wie eine Zeitkapsel. Fünf Jahre später hat sich die Welt draußen rasant verändert. Es ist das Jahr 2006. Bin wartet nicht. Er ist nicht mehr da und Qiao begibt sich auf die Suche nach ihm. Für diesen Teil der Erzählung wählt Regisseur und Drehbuchautor Jia Zhang-Ke die Provinz der Drei-Schluchten. Sie steht prototypisch für die radikalen Veränderungen, die das Land gerade durchmacht. Die Talsperre für das Dammbauprojekt wird gerade in Betrieb genommen und der Wasserstand ist dabei um 90 Meter zu steigen. Das Wiedersehen mit Bin verläuft wenig zufriedenstellend und Qiao begibt sich noch einmal auf eine Reise. Die Veränderungen sind dabei auch an ihr selbst nicht spurlos vorübergegangen.

In Jias Filmen entstehen mehrere Bedeutungsebenen. Seine Protagonisten werden mit Umwälzungen konfrontiert. Dabei umspannt die Handlung für Jia typisch einen längeren Zeitraum. Neben den Charakteren und deren Umfeld spielt auch das Schaffen des Regisseurs selbst eine Rolle. Jia verwendet vor Jahren gedrehtes Material und setzt es in einen neuen Kontext. Er setzt seine Figuren in Landschaften und urbane Räume, in denen sie in einer Trostlosigkeit gefangen zu sein scheinen, ohne jedoch allzu viel Tragik aufkommen zu lassen.

Irgendwann wird klar, was Qiao tatsächlich vermisst. Der originale Filmtitel gibt hier Abhilfe. Jianghu ist nicht nur die traditionelle chinesische Unterwelt. Damit verbunden ist ein eigener Moralcodex, der das Leben zwischen Freundschaft und Feindschaft und Liebe und Hass bestimmt. Eine Welt, in der sich die aus ärmlichen Verhältnis stammende Qiao schon gut zurecht gefunden hat.

ASCHE IST REINES WEISS | JIA ZHANG-KE |OT: Jiang Hu Er Nu | CHN 2018 | 135 Min. | 3.5 out of 5 stars

Foto ©Stadtkino Filmverleih


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