loveless-film

Aljoscha (Matwei Nowikow) versteckt sich hinter der Wohnzimmertür und stößt einen stummen Schrei aus. Tränen rinnen ihm über das Gesicht. Der Bub musste gerade einen Streit zwischen seinen kurz vor der Scheidung stehenden Eltern mitanhören. Als wäre das nicht schon schlimm genug, muss er erfahren, dass sie ihn beide nicht wollen. Vielmehr erfährt man über Aljoscha nicht. Bald darauf ist er verschwunden.

Un-Liebe

Zhenya (Mrjana Spiwak) hat bereits einen neuen Freund. Ihr Mann Boris (Alexei Rosin) hat ebenso eine neue, hochschwangere Freundin. „Loveless“ beginnt da, wo eigentlich alles zu Ende ist. Das kann auch ein Neuanfang sein. Zumindest aus Sicht des Publikums scheint das nicht möglich zu sein, so sehr wie die beiden von Kälte und Hass zerfressen sind. Aljoscha war kein Wunschkind und ein Kompromis wie die ganze Beziehung. Beide Eltern haben mit ihrem gemeinsamen Leben abgeschlossen. Nichts zeugt von einer vergangenen Zweisamkeit. Der Originaltitel „Njeljubow“ bedeutet eigentlich Un-Liebe.

Dann ist der Sohn auf einmal Weg und keiner bemerkt es. Erst die Lehrerin, nachdem Aljoscha den zweiten Tag hintereinander nicht in der Schule erscheint. Nicht einmal dann sind Zhenya und Boris dazu in der Lage, für einen Moment zusammen zu finden. Es ist eine Atmosphäre der Trostlosigkeit und Hoffnungslosigkeit, die Regisseur Andrei Swjaginzew in kühlen blaustichigen Bildern erzeugt. Die Polizei interessiert sich nicht weiter für den Fall. So engangieren die Eltern einen professionellen Suchtrupp aus freiwilligen Helfern. Der Film schildert die folgende Suchaktion am Rande Moskaus mit pathologischer Genauigkeit.

Entfremdung von Staat und Gesellschaft

Die Mutter gibt sich ganz der materiellen Welt hin. Mit dem Handy in der Hand ist ihre reale Umgebung schlicht nicht existent. Zhenyas Empathielosigkeit erklärt sich, als sie mit den Helfern ihrer Mutter einen Besuch abstatten. Auch sie ist ein ungewolltes Kind und ihre tief gläubige Mutter hat nichts als Grausamkeiten für sie übrig. Liebe hat sie von ihr nie erfahren. Boris‘ Chef ist ein Ultrakonservativer, der von seinen Mitarbeitern das russische Ideal einer aufrechten Ehe mit Kindern verlangt. Die Scheidung muss er verheimlichen und für eine neues Kind mit seiner Freundin bleibt nicht viel Zeit.

„Loveless“ ist nicht nur eine verstörende Charakterstudie. Das Russland, das hier gezeigt wird, ist vom von der Orthodoxie aufoktroyierten Konservatismus durchzogen und interessiert sich abseits der Normvorstellungen für seine Bürger wenig. Die ständigen Fernsehnachrichten zeugen viel mehr vom Interesse der territorialen Expansion und verbreiten patriotische Parolen. Es sind zermürbende zwei Stunden und der Film entlässt die Zuseher entsprechend niedergeschlagen. Swjaginzew ist neuerlich ein Meisterwerk geglückt.

Andrei Swjaginzew | RUS/F/BEL/D 2017 | 127 Min. | 4 out of 5 stars

Foto: © Polyfilm

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