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Der mexikanische Regisseur Alfonso Cuarón hat seinen bisher persönlichsten Film gedreht. Aus Sicht seines Kindermädchens porträtiert er in atemberaubenden schwarzweiß Bildern den Alltag von Mexiko City in den sechziger und siebziger Jahren.

Es gibt viele Möglichkeiten einen Film zu beginnen. Alfonso Cuarón zeigt Abwaschwasser, das schwallweise in einen Kanal rinnt. Minutenlang. Ein Flugzeug am Himmel spiegelt sich in der Pfütze und die Kamera öffnet sich zu einer Totalen, gefolgt von einem dieser langen Schenks, die in diesem Epos immer wieder kehren werden. Cleo reinigt die Einfahrt des gutbürgerlichen Hauses im Titel gebenden Stadtteil in Mexico City. In der engen Zufahrt parkt der Vater Antonio (Fernando Grediaga) jeden Abend mit fanatischer Genauigkeit millimetergenau sein Auto ein, während seine Frau Sofía (Marina De Tavira) mit deren vier Kindern geduldig und sehnsüchtig wartet. Eine heile Welt, wenn sich die Tore der Garage schließen.

Cloe, gespielt von Yalitza Aparicio, ist Haus- und Kindermädchen mixtekischer Abstammung. Die Geschichte wird aus ihrer Sicht erzählt. Sie stellt Cuaróns einstiges Kindermädchen dar, das ihn in den sechziger und siebziger Jahren großgezogen hat. Nach dem Überraschungserfolg von Y Tu Mamá También in Venedig 2001 und dem technischen 3D-Meisterwerk Gravity 2013 kehrt der Regisseur zuerst für die Dreharbeiten in seine Heimat und dann nach Venedig zurück und holt sich in diesem Jahr seinen dritten Goldenen Löwen ab.

Roma ist ein liebevolles Porträt von gesellschaftspolitischer Dimension. Zu Hause spielt sich bald ein Familiendrama ab. Cloe ist wie ein Hausgeist mittendrinnen und wird, obwohl selbst vom Schicksal nicht verschont, von der Familie völlig ignoriert, sobald sie selbst mit ihren eigenen Problemen zu sehr beschäftigt ist. Mitten durch das Wohnzimmer verläuft eine scharfe soziale Trennlinie.

Cuarón beherrscht die leisen Töne und verleiht ihnen eine enorme Wucht, stellt dem Alltag historische Ereignisse gegenüber. Cloe wird während eines Einkaufes Zeugin des Corpus-Christi-Massakers, bei dem 120 Studenten von Militärs getötet wurden. Dabei bleibt die Kamera konsequent bei der Hauptdarstellerin und verleiht dem Moment eine unglaubliche Eindringlichkeit. Im quälend langsamen Kameraschwenks fühlt man sich als Zuschauer selbst wie gelähmt im Angesicht des tragischen Ereignisses.

Cuarón spielt mit der Aufmerksamkeit des Publikums. In einer Szene in einem Kinosaal leitet er sie vom Geschehen im Vordergrund direkt auf den Film auf der Leinwand. Aufeinmal ist man mitten in einer Kriegskomödie. Im Zentrum des Filmes steht später eine herzzerreißend Spitalsszene mit Cloe. Eine schier endlos lange Kameraeinstellung, die kein Wegschauen zulässt und für viele ein Schock sein dürfte. Gegen Ende kommt es dann zu einer Wende, die an Dramatik kaum zu überbieten ist. Ebenfalls eine einzige Einstellung, im tosenden Meer.

Der Sound ist neben den prächtigen durchkomponierten schwarzweiß Bilder in Cinemascope ein weiteres bemerkenswertes Detail. Wie oft kommt es in Zeiten von ausgeklügeltsten Surround Sounds schon vor, das man sich umdreht, weil man in den hinteren Reihen störende Plaudertaschen vermutet? Roma ist nicht nur ein erzählerisches Meisterwerk, sondern auch ein technisches.

Alfonso Cuarón war der erste mexikanische Regisseur, der einen Regie-Oscar bekommen hatte. Gut möglich, dass er im nächsten Jahr wieder Geschichte schreiben wird. Roma geht für Mexiko ins Rennen um den Besten Fremdsprachigen Film. Dort darf er als Favorit gelten und obwohl die Nominierungen erst im Jänner bekannt gegeben werden, führt er bei den Buchmachern bereits die Kategorie Beste Regie an. Dabei zeichnet sich Cuarón noch für das Drehbuch, die Kamera und den Schnitt (mit Adam Gough) verantwortlich. Roma ist ein Ausnahmefilm. Gut möglich, dass sich das auch bei der Preisvergabe niederschlägt.

Netflix hat die Produktion und den Vertrieb übernommen. In den nächsten Tagen kommt es zu einem limitierten Kinostart, bevor der Film nächste Woche auf der Streaming Plattform abrufbar sein wird. Ein Screening auf der großen Leinwand sei dringend empfohlen. Paradoxerweise kann sich gerade Roma nur dort richtig entfalten. In Italien kam es wegen der Restriktionen im Verleih zu einem Boykott durch Kinobetreiber. Eine besondere Situation, da der Film im Rahmen der staatlich subventionierten Filmfestspiele gelaufen ist und nun nicht flächendeckend verwertet werden darf. Das Kino befindet sich also im Umbruch. Mit Roma an der Spitze sind die Zeiten so schlecht nicht.

Alfonso Cuarón | MEX/USA 2018 | 135 Min | 5 out of 5 stars

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