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Titelbild: Ghost Elephants von Werner Herzog

Ein Kinojahr, in dem uns Jim Jarmusch nach jahrelanger Abstinenz mit seinem neuen Episodenfilm einen Festivalliebling präsentiert, Richard Linklater gleich mit zwei Filmen vertreten ist, Willem Dafoe als Stargast mit zwei Filmen im Gepäck anreiste (einer davon, The Souffleur, spielt im vom Abriss bedrohten Festivalhotel Intercontinental), genauso wie die nicht weniger sympathische Juliette Binoche mit ihrer ersten Regiearbeit im Gartenbaukino zu Gast war, konnte die Viennale neuerlich ein leichtes Besucherplus verbuchen. Das ist in Anbetracht der Gesamtsituation, als der Konkurrenz vor dem heimischen Sofa, absolut bemerkenswert. Wie immer, bei einer derartig vielfältigen Fülle an Filmen, hätte dort und da wohl ein Stamperl Zimtschnaps – (c) Ethan Coen und Tricia Cooke – geholfen.

Miroirs No. 3, Stadtkino Filmverleih

Dass der deutsche Regisseur Christian Petzold in seinem ersten Jahr als Festivalpräsident mit seinem eigenen Film eröffnen durfte, sorgte dort und da doch für etwas Verwunderung. Sechs Jahre hatte das Wiener Filmfestival nach dem Tod von Eric Pleskow keinen Präsidenten oder Präsidentin. In Miroirs No.3 greift Petzold ein altbekanntes Thema auf, und es dauert nicht lange, bis wir ahnen, was hier gespielt wird. Und trotzdem: der Regisseur verleiht dem Stoff seine eigene Handschrift und hält den Spannungsbogen bis zum Ende. Über dem Familiendrama schwebt eine latente Gefahr und wenn man Paula Beer in der gefühlt immer gleichen Rolle aushält, wird man im gewohnt abgelegenen Setting der deutschen Provinz gut unterhalten. Petzolds großes Vorbild Alfred Hitchcock ist hier nicht zu übersehen. er bezeichnet sich selbst als Hitchcockianer.

Nouvelle Vague, Polyfilm Verleih

In diesem Jahr überrascht uns Richard Linklater mit gleich zwei neuen Produktionen. Eine davon ist aus der Leidenschaft des Filmemachens geboren. In Nouvelle Vague erzählt er von der Entstehungsgeschichte von Jean-Luc Godards Außer Atem (À bout de souffle) mit Jean Paul Belmondo und Jean Seberg in den Hauptrollen. Der Film brachte nicht nur den Durchbruch für alle Beteiligten, sondern markiert durch seine für damalige Zeiten revolutionäre Machart eine Zäsur in der Filmgeschichte. Als Vertreter der Bewegung der titelgebenden Nouvelle Vague hatte der Film Einfluss drauf, wie Geschichten erzählt wurden und vor allem auch, wie sie technisch umgesetzt werden konnten.

Richard Linklater stellt dazu zahlreiche Weggefährten der damaligen Kunst- und Kulturszene mit Insert vor. Gedreht in schwarzweiß und im 4:3 Format nimmt er zwar Anleihen an die damalige Stilistik (es gibt sogar jene Markierungen am Bildrand, die eigentlich für den Filmvorführer den Wechsel der Filmrollen signalisieren sollen), verzichtet aber darauf den Stil der Nouvelle Vague zu kopieren.

Die Schrulligkeit von Jean-Luc Godard bietet unzählige Möglichkeiten für unterhaltsame Momente. Nouvelle Vague ist eine liebevolle Hommage an einen entscheidenden Moment der Filmgeschichte.

Father Mother Sister Brother, Filmladen

Jim Jarmusch ist zurück und bekommt für seinen ersten Film nach sechs Jahren gleich erstmalig die Goldene Palme in Cannes. In Father Mother Sister Brother erzählt er drei voneinander unabhängige Familiengeschichten, die aber durch viele Feinheiten im Drehbuch und in der Inszenierung doch mit einander in Verbindung stehen. Eine Meisterklasse, bei der man aus dem Staunen nicht herauskommt. Ein Höhepunkt des Filmjahres mit Starbesetzung.

Werner Herzog kann uns alles erzählen. Egal ob ein Exkurs über Albino Alligatoren oder Geisterelefanten. Wir hören gespannt zu. Mit seinem seiner markanten Stimme und dem gewohnt lakonischen Kommentar begibt sich Herzog in Ghost Elephants nach Angola und begleitet Wissenschaftler auf der Suche nach den größten lebenden Elefanten der Welt. Es wäre nicht Werner Herzog, wenn er nicht mitten im Dschungel stehend, einen humorvollen Kommentar auf den Lippen hätte und die Sinnhaftigkeit der ganzen Expedition in Frage stellt. Der auf ewig neugierige und abenteuerlustige Herzog begibt sich mit Vorliebe in entlegene Regionen und unbekannte Ökosysteme. So ist es auch hier, wenn er Menschen begleitet, die mit voller Leidenschaft wahrscheinlich nur einem Phantom auf der Spur sind. Ein Plädoyer für die Artenvielfalt und ein seltener Einblick in eine uns völlig fremde Lebensweise.

Man soll sich auf sein Bauchgefühl verlassen. Schon die ersten sechzig Sekunden von Kunag ye she dai (Resurrection) von Bi Gan stimmen misstrauisch. Die ersten 20 Minuten sind wie ein Stummfilm aufgebaut, mit Texttafeln, die teils wegen der kurzen Einblendungen kaum lesbar sind. Die Protagonistin stolpert dabei von einer Kulisse in die nächste. Dann doch ein Tonfilm. Nach einer starken Stunde ist die Geduld überstrapaziert. Eineinhalb Stunden sollten noch folgen, das ist dann doch zuviel. In Cannes der Sonderpreis der Jury. Spektakuläre Sets. Ja klar. Unverkennbare Verweise an den expressionistischen Film. Es ist interessant, wie Kritiker aus aller Welt RESURRECTION krampfhaft etwas Positives abgewinnen möchten.

Nach 2021 hat Festivaldirektorin Eva Sangiorgi den Dokumentarfilmer Avi Mograbi aus aktuellem Anlass nochmals mit seinem Film The First 54 Years – A Abbreviated Manual for Military Occupation über die Geschichte der Okkupation von Westjordanland und Gazastreifen eingeladen. Eine der guten Entscheidungen des diesjährigen Festivals. Hier kommen ehemalige Besatzungssoldaten zu Wort, die offen über ihre Gräueltaten sprechen. Vor allem die jahrzehntelange Gewalt gegen Kinder ist erschütternd. So ist bereits mehr als eine Generation unter diesen Umständen aufgewachsen. Aufgestauter Hass, der sich irgendwann entladen muss, wie uns die Geschichte gelehrt hat. Avi Mograbi gibt sich im Gespräch mit Ruth Beckermann pessimistisch. Seine Filme sind auf YouTube verfügbar (Link).

Die, My Love, Polyfilm Verleih

Grace und Jackson, gespielt von Jennifer Lawrence und Robert Pattinson ziehen sich auf ein Haus am Land zurück. Nach der Geburt ihres Kindes fällt Grace in ein emotionales Tief und Jackson ist viel unterwegs. Postpartale Depression als Thema in Lyne Ramsays neuestem Film Die, My Love wird zwar nie angesprochen aber ist doch nicht zu übersehen. Dass sich Jackson zurückzieht und Grace augenscheinlich in ihrer Verzweiflung allein lässt oder das sein Verhalten gar der Auslöser sein könnte sind Andeutungen, die der Film macht aber die Problematik doch sehr verkürzt darstellen. Grace‘ Eskapaden werden so gedeutet, als sei sie verrückt geworden. Hier fehlt es dem Drehbuch an Tiefe.

Die Kamera von Seamus McGarvey ist jedoch die reinste Freude. Gedreht im wieder in Mode zu kommen scheinenden Academy Format, also 4:3, wie wir es von alten TV Geräten kennen. Weniger Raum. Keine weiten Landschaften und dafür harmonische und aufgeräumte Bildkompositionen..

Vor mehr als 25 Jahren ging Juliette Binoche gemeinsam mit Akram Khan mit einer Performance auf Tournee. Binoches‘ Schwester dokumentierte damals den Probenablauf und die Performance mit ihrer Kamera. Nun hat sich die französische Schauspielerin an ihre erste Regiearbeit gewagt und das Material für In-I In Motion auf zwei Stunden zusammengeschnitten. Die erste Stunde sehen wir die Proben und anschließend die Aufführung.

In-I In Motion beobachten wir vom ersten Moment weg eine intensive körperliche Erfahrung. Binoche, die zuvor noch nicht mit Tanz in Berührung gekommen ist und Khan , der sich erstmalig als Schauspieler probieren wollte. Der gegenseitige Austausch war von Anfang an Teil der Zusammenarbeit. Es ist spannend, dem kreativen Schaffensprozess beiwohnen zu können. Der Film richtet sich aber eher an ein tanz affines Publikum.

The History of Sound, UPI Austria

In The History of Sound von Oliver Hermanus lernen sich Lionel (Paul Mescal) und David (Josh O’Connor) 1917 am New England Conservatory kennen. Sie teilen nicht nur ihre Leidenschaft für Folk-Musik sondern auch für einander. Nach dem 1. Weltkrieg machen die beiden eine Forschungsreise, bei der sie Folk-Lieder aufzeichnen, um sie für die Nachwelt zu erhalten. Im Laufe der Jahre trennen sich ihre Wege immer wieder. Irgendwann bricht der Kontakt ab.

Das gemächliche Erzähltempo von The History of Sound wird ihm irgendwann zum Verhängnis. Da nützen auch zwei der derzeit gefragtesten Hauptdarsteller nichts. Mann muss doch viel Geduld aufbringen bis zum schmerzlichen Finale. Man wird das Gefühl nicht los, dass hier einiges an Potential vergeben würde. Sowohl Thema und zwei Stars wären vorhanden gewesen,

Einen Film, der im Russland unter Stalins Terror spielt und bei dem man das Gefühl nicht los wird, sich in der Gegenwart zu befinden, kann man getrost als Film der Stunde bezeichnen. Two Prosecutors (Kommt zu uns unter dem Titel Zwei Staatsanwälte) von Sergei Loznitsa erzählt von einem Staatsanwalt, der einen aus dem Gefängnis geschmuggelten Hilferuf erhält und daraufhin versucht, zu dem Gefangenen vorzudringen. Seinen Weg kann man kaum anders als kafkaesk bezeichnen. Es ist frustrierend, schockierend und ebenso humorvoll, wie sich Alexander Kornev (Alexander Kusnezow) schrittweise von einer verschlossenen Tür zur nächsten durchkämpft. In der zweiten Hälfte des Films versucht er auf die Missstände in seiner Provinz aufmerksam zu machen und Gerechtigkeit für die Gefangenen zu erlangen.

Two Prosecutors, PROGRESS Filmverleih

Man könnte Kornev auf den ersten Blick als Naiv bezeichnen aber, wie es Regisseur Sergei Loznitsa im anschließenden Gespräch sagt, er wusste es nicht besser. Naiv mag er vielleicht mit dem heutigen Wissensstand erscheinen aber damals hatte kaum jemand Kenntnis darüber, was das Regime tatsächlich an seinem eigenen Volk alles verbrochen hatte. Verbrechen, die sich heute leider in immer mehr Ländern wiederholen. Two Prosecutors ist einer der Filme des Jahres, den man gesehen haben sollte.

Zum Überraschungsfilm der diesjährigen Viennale eignete sich Anemone insofern perfekt, da er zu Beginn gänzlich auf Titel verzichtet. Noch dazu nähert er sich seinen Hauptdarstellern nur zögerlich an. Daniel Day-Lewis sieht man anfangs nur von hinten oder im Dunklen. Inszeniert wird Day-Lewis so von seinem eigenen Sohn Ronan Day-Lewis, mit dem er auch das Drehbuch verfasst hat. Anemone beginnt bildgewaltig und im Grunde zieht sich das durch den gesamten Film, allerdings kann die Story über zwei Brüder (Sean Bean ist der zweite, der hier aber fast schon zum wortlosen Statisten verkommt), die sowohl von ihrer familiären Vergangenheit, als auch der Zeit im Nordirlandkonflikt geplagt sind, nicht überzeugen. Ganz auf Daniel Day-Lewis zugeschnitten gehen alle anderen Charaktere unter (in er Rolle seiner Frau: Samantha Morton). Im Grunde geht es die ganze Zeit darum, dass der eine Bruder den anderen dazu überreden möchte, wieder zu seiner Familie zurückzukehren, die der traumatisierte Soldat bereits vor der Geburt seines Sohnes verlassen hatte und der nun im Teenageralter in einer Krise steckt, mit der seine Mutter nicht fertig wird. Da braucht es schon einen Vater. Alles klar soweit?

Honey. Don’t, UPI Austria

Die Privatdetektivin Honey O’Donahue (Margaret Qualley) gerät in Honey, don’t durch einen ihrer Fälle an eine dubiöse Kirche und deren Anführer Drew Devlin (Chris Evans). Es st der zweite Teil einer „lesbian b-movie trilogy“ von Ethan Coen und seiner Frau Tricia Cooke. Mit dem klassischen Stoff einer Neo-Noir-Krimikomödie wollten sie ganz offensichtlich der MAGA-Bewegung trotzen. Auch wenn der Film zeitweise unterhaltsam ist, so ist die Suppe einfach zu dünn. Die Charaktere wirken wir Karikaturen. Vielleicht doch eher ein c-movie.

Der Investigativjournalist Seymour Hersh beleuchtet seit Jahrzehnten die Abgründe der US-Außenpolitik. Angefangen von Vietnam, über Chile bis Irak ist die Liste der Skandale und Verbrechen lange. Richard Nixon und Henry Kissinger waren sich der Gefahr bewusst, die von Hersh ausgeht, wenn es darum ging ihr Vorgehen zu vertuschen.. Das belegen heute Tonbandmitschnitte. Kissinger zögerte auch nicht, gleich direkt anzurufen. Selbst etablierte Tageszeitungen und Magazine ließen Hersh nur mit Bauchweh walten. Niemand wollte Ärger mit der US-Administration und Teile der Bevölkerung sahen Hershs Arbeit mehr als Verrat, denn als notwendige Aufklärungsarbeit.

Trotzdem ist Seymour Hersh bis heute unermüdlich darin, aufzudecken, was eigentlich im Verborgenen bleiben sollte. Es ist eine mahnende Geschichtsstunde über institutionalisierte Gewalt, die uns Laura Poitras und Mark Oberhaus in der Dokumentation Cover-Up hier servieren, nachdem Poitras 20 Jahre lang versucht hat, einen Film über Hersh zu drehen, bis dieser nun doch einwilligte. Das nächste Projekt liegt auf dem Tisch des heute 88-jährigen Hersh. Es sind Fotografien von Angriffsplänen israelischer Soldaten an den Wänden von Häusern im Gazastreifen.

After the Hunt, Amazon Prime

Luca Guadagnino Beitrag zur #metoo Bewegung entfachte hitzige Debatten. Nach der Premiere von After the Hunt musste sich sogar Hauptdarstellerin Julia Roberts vor der Presse rechtfertigen. Die von ihr gespielte Uni-Professorin erfährt von einer ihrer Schülerinnen, dass einer ihrer Professoren-Kollegen übergriffig wurde. Nur reagiert diese nicht so, wie man es erwarten, bzw. allgemein für richtig halten würde. In weiterer Folge lässt uns Guadagnino aber im Unklaren darüber, was nun wirklich passiert ist und das weit mehr als 2 Stunden. After the Hunt kommt nicht auf den Punkt und wirkt unausgegoren. Hinzu kommt die hier leider nervende Musik von Trent Reznor und Attiucs Ross. Für Gesprächsstoff ist jedenfalls gesorgt und Julia Roberts zeigt uns einmal mehr ihre unglaubliche Leinwandpräsenz. Ein Star eines Formats, von denen es nur mehr wenige gibt.

Ed Saxberger (Willem Dafoe) verdient sich seinen Lebensunterhalt als Postbeamter. Vor Jahren schrieb er einen Gedichtband, der in Fachkreisen gefeiert wurde, ihm aber nicht zum Durchbruch verhalf. Als ihn eine Gruppe von jungen Schriftstellern wiederentdeckt, genießt er nach einiger Überzeugungsarbeit seinen späten Ruhm. Regisseur Kent Jones inszenierte Late Fame nach der gleichnamigen Novelle von Arthur Schnitzler und verlegt sie ins New York der Gegenwart. Zwei Welten prallen hier aufeinander, wenn ein Schriftsteller auf eine Gruppe junger Künstler trifft, deren Geltungsbewusstsein größer ist, als die Liebe zur Kunst selbst. Der Film hat ihn Österreich noch keinen Verleih und wurde von der „Standard“-Viennale-Publikumsjury ausgezeichnet.

Weiter Filme auf dem Programm, wie The Mastermind von Kelly Reichardt, Ein einfacher Unfall von Jafar Panahi und Sentimental Value von Joachim Trier, werden bei THE REEL THERAPIST gesondert Platz bekommen.

MACHE DEIN WIEN-SIGHTSEEING ZUM CINEMATISCHEN ERLEBNIS!

Neu in Wien: Die FILMED ON LOCATION Audiotour führt dich an Drehorte von Filmen wie „Der Dritte Mann“, „Before Sunrise“ oder „James Bond 007: Der Hauch des Todes“. Höre spannende Hintergrundgeschichten über ihre Entstehung und tauche ein in die spannende Welt des Filmemachens. Buche direkt auf der Webseite: www.filmed-on-location.com.


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