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Kaum wo sind Politik und Gesellschaft so eng verbunden wie in der Volksrepublik China. Politische Entscheidungen haben unmittelbar drastische Konsequenzen auf den Alltag der Bevölkerung. Kaum etwas wird dem Zufall überlassen. Die eigene Lebensplanung wurde bis vor kurzem rigoros eingeschränkt. Bis dann, mein Sohn (engl. Festivaltitel So long, my son) von Wang Xiaoshuai erzählt vor diesem Hintergrund zwei Familiengeschichten, die auf schicksalshafte Weise mit einander verbunden sind und sich über drei Dekaden erstrecken.

Die Erzählung setzt zwei Jahre nach Maos Tod im Jahr 1978 ein und endet 2011, als das Land bereits zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt aufgestiegen war. Die beiden Protagonisten Liu Yoajun (Wang Jingchun) und seine Frau Wang Liyun (Yong Mei) gehören der bitterarmen Arbeiterschaft an und bringen Anfang der 1980er Jahre ihren Sohn Xing auf die Welt. Er wird genau am selben Tag geboren wie Haohao, der Sohn des befreundeten Ehepaars Shen Yingming (Xu Cheng) und Li Haiyan (Ai Liya). Regisseur Wang begleitet die zwei Familien durch die verschiedenen Phasen der chinesischen Entwicklung. Lange Zeit geprägt durch Armut und die Ein-Kind-Politik schaffen es vor allem Yingming und Haiyan, den mit dem Umstieg von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft einhergehenden wirtschaftlichen Aufschwung für sich zu nutzen. Mitte der 90er Jahre kommt kleine Xing bei einem tragischen Unfall in einem Stausee ums Leben. Was genau passiert war, erfährt man erst spät im Film. Es wird aber deutlich, dass die befreundete Familie damit zu tun hat.

Durch den Unfall trennen sich die Wege der beiden Familien. Gleichzeitig bleiben sie dadurch auch über eine größere Distanz emotional verbunden: Lebenslange Trauer auf der einen Seite und Schuldgefühle auf der anderen. Wang macht es dem Publikum nicht leicht, indem er die Geschichte nicht chronologisch erzählt. Man muss schon sehr genau aufpassen, um vor allem nicht zu Beginn kurzzeitig den Überblick zu verlieren. Nicht nur wegen der vielen Namen, sondern auch deshalb, weil die zeitliche Zuordnung im ersten Moment nur durch den Alterungsprozess der Protagonisten erfolgt und der ist nicht so deutlich wie beispielsweise in The Irishman. Darüber hinaus sind es viele Detail, angefangen bei der Kleidung, in denen sich der Wandel über die Jahrzehnte zeigt.

Die Entwicklungen des Landes anhand von Einzelschicksalen darzustellen, ist in Bis dann, mein Sohn zweifellos gelungen. Erst innerhalb dieses Mikrokosmos wird deutlich, was es bedeutet, derart rasanten Veränderungen ausgesetzt zu sein. Die stoische Ruhe der Charaktere bestimmt das Tempo des Filmes. Die Kamera von Kim Hyun-seok geht oftmals auf Distanz, gerade wenn es dramatisch wird. Für ihre überzeugende Darstellung wurden Wang Jingchun und Yong Mei im vergangenen Jahr bei der Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet. Regisseur Wang ist ein beeindruckendes Familienepos geglückt.

Wang Xiaoshuai | OT: Di jiu tian chang (So Long, My Son) | CHN 2019 | 185 Min. | 4 out of 5 stars


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