Laxenburgerstraße, Wien 1990. In einem kleinen Backsteinhäuschen am Rande des Bahnhofsgeländes befand sich die Schallplatten Brigitte. Dort erwarben wir unsere erste Compact Disc: „The very best of Elton John“. Natürlich ein Doppelalbum. Eines von etwa 300 Millionen Exemplaren, die Elton John im Laufe seiner Karriere verkaufen konnte. Die Kratzer heute zeugen von den zig Umdrehungen. Und: sie dreht sich noch heute. Einmal Elton John Fan, immer Elton John Fan. Gleich die zweite Nummer auf der ersten Scheibe ist Rocketman. Titelgebend für die vom Künstler autorisierte Verfilmung seiner Biografie. Kurz nach dem Megaerfolg von Bohemian Rhapsody drängt sich zwangsläufig ein Vergleich auf. Regisseur Dexter Fletcher übernahm damals bereits die Finalisierung, nachdem Brian Singer gefeuert wurde. Nun geht er mit Rocketman formal einen ganz anderen Weg.
Rocketman ist ein Musical, das in der frühen Kindheit von Reginald Kenneth Dwight ansetzt. Musikalisch konzentriert man sich auf die frühen Jahre. I Want Love vom Album Songs From The West Coast aus dem Jahr 2001 ist der einzige neuere Song. Dieser steht gleichzeitig aber im Zentrum. Das Biopic versucht nicht nur Elton Johns musikalischen Einflüssen auf den Grund zu gehen, sondern wagt einen Blick hinter die schillernde Fassade des Superstars, der sich Zeit seines Lebens hinter ausgefallenen Brillen und manchmal grotesken Kostümen versteckt hat. Die einzelnen Nummern werden von den Darstellern selbst gesungen und inhaltlich in die Geschichte eingebettet, dort wo es gerade passt und in einen neuen Kontext gesetzt. Also weniger Nummernrevue als Bohemian Rhapsody. Der Song aus dem Jahr 2001 wird vom jungen Reginald und seiner Familie interpretiert (Bryce Dallas Howard als kühle Mutter und Gemma Jones als Großmutter und einzige Unterstützung), nachdem ihm sein Vater (Steven Mackintosh) einmal mehr abgewiesen hatte. An dieser Stelle kann man gut verstehen, dass Elton John während der Premiere in Cannes zu Tränen gerührt war. Dramaturgisch ein kluger Schachzug.
Neben dem 21 Nummern umfassenden Soundtrack hat Rocketman noch einen zweiten Trumpf. Taron Egerton in der Hauptrolle singt nicht nur alle Hits selber, sondern spielt Elton John, ohne ihn zu imitieren, also auf eine ganz andere Art als noch Rami Malek es mit Freddie Mercury gemacht hat. Leid und Selbstzweifel sind ihm ins Gesicht geschrieben, genauso wie die Leidenschaft für die Musik. Darüber hinaus bleibt das restliche Ensemble aber hinter dem von Bohemian Rhapsody zurück.
Im gutbürgerlichen Haus sind die Rollenbilder festgefahren und scheint für Querdenker kein Platz zu sein. „I wish, i was someone else“ sagt Dwight einmal. Die Namensänderung ist unumgänglich. Das musikalische Talent wird bald sichtbar und gefördert. Richtig entfalten kann sich Elton John erst als er auf Bernie Taupin (Jamie Bell) trifft, der wie ein Bruder für ihn wird und dessen Texte er fortan vertont. Ein künstlerischer Prozess, der im Film allerdings mit übertriebener Leichtigkeit dargestellt wird.
Fletcher macht vieles richtig. Von Beginn an legt er ein hohes Tempo vor. Die Szenen sind schön anzusehen und strotzen vor kreativen Einfällen, die dem Film eine wunderbare Dynamik verleihen. Dabei wird ganz im Stile Elton Johns nicht mit fantasievollen Übertreibungen gespart. Leider gehen diese gegen Ende hin verloren. Das Ende kommt mit I’m Still Standing in den 1980er Jahren dazu sehr abrupt und hinterläßt das Publikum wehmütig, verabschiedet sich Elton John doch gerade auf einer großen Tournee von seinen Fans.
You got to kill the person you were born to be, in order to become the person you want to be.
Reginald Kenneth Dwight bekommt einen Ratschlag.
Rocketman ist wie eine Familienaufstellung des nun bereits seit 50 Jahren tourenden Ausnahmekünstlers. Dass nun der erste große Oscar Anwärter in die Kinos kommt, ist kein großes Geheimnis. Es ist die erste Major-Studio Produktion mit einem homosexuellen Protagonisten – Sexszene inklusive. Die nächste Station scheint mit dem Broadway auch schon fix. Wieder gilt: die Musik muss man schon mögen, um an Rocketman gefallen zu finden. Elton John gehört neben den Beatles und Elvis zu den sieben erfolgreichsten Musikern überhaupt. Wenige Monate später befand sich damals übrigens eine zweite CD in unserem Wohnzimmer: Innuendo von Queen. Queen haben gut 100 Millionen Tonträger weniger verkauft. Es wird sich für Rocketman also ein Publikum finden.
ROCKETMAN | DEXTER FLETCHER | UK/USA 2019 | 121 Min. |
Neueste Beiträge auf THE REEL THERAPIST
▶︎ POKÉMON: MEISTERDETEKTIV PIKACHU
▶︎ VAN GOGH – AN DER SCHWELLE ZUR EWIGKEIT
▶︎ WILDLIFE