tully

Ist man mit seinem Baby nach 18 Uhr in der U-Bahn unterwegs, zieht man vorwurfsvolle Blicke auf sich. Gehören Babys nicht schon ins Bett? Schreit es laut, werden Köpfe geschüttelt. Das arme Kind! Gleichzeitig ist es mit Kind nicht selbstverständlich einen Sitzplatz zu bekommen. Auch die hochschwangere Marlo (Charlize Theron) sieht sich mit dem einen oder anderen Ratschlag konfrontiert. Da ist Koffein im koffeinfreien Kaffee! Danke für den Hinweis.

Um die von Leid geplagte Lebensphase rund um Geburt geht es im neuen Komödiendrama von Regisseur Jason Reitman und Drehbuchautorin Diablo Cody. Die Beiden brachten schon Juno gemeinsam in die Kinos und elf Jahre später zeigen sie nun ihre erwachsen gewordene Variante des Zusammenlebens rund ums Kinderkriegen.

Are you ok?

Marlo ist am Ende ihrer Kräfte. Ihr Körper spielt verrückt. Das dritte Kind ist auf dem Weg und die ersten Beiden halten sie auf trab. Es ist ein Zustand wie im Dellirium, wenn einem der eigene Körper fremd wird und man sich vor lauter Erschöpfung kaum mehr wach halten kann. „Are you ok“, fragt ihr Mann Drew (Ron Livingston) nach der Arbeit, als Marlo sichtlich erschöpft im Sessel versunken mit den Kindern beim Abendessen sitzt. Es ist eine Mischung aus Überforderung, Hilflosigkeit und Ignoranz, die eine Beziehung in dieser Zeit prägen. Der Alltag wird durch komplexe Aushandlungsprozesse gemeistert. Irgendwie. Denn nicht selten bleibt die Frau dabei auf der Strecke.

Die Sehnsucht nach einem anderen Leben

Tully zeigt die für die Frau extreme Situation, diesen körperlichen und geistigen Ausnahmezustand, für einen Mainstream Film relativ schonungslos. Charlize Theron hat für die Rolle über 20 Kilogramm zugenommen und zeigt einmal mehr, warum sie eine der herausragendsten Schauspielerinnen ihrer Generation ist.

Als Marlo zufällig eine Jugendfreundin trifft, deren Leben sich in eine andere (kinderlose) Richtung entwickelt hat, wird in ihr für einen Moment die Sehnsucht nach einem anderen Leben wach, ohne Kinder und dicken Bauch. Die Freiheit über ihr Leben selbst bestimmen zu können, ein verlockender Gedanke.

Girls just wanna have fun

Marlos wohlhabender Bruder Craig (Mark Duplass) macht ihr das Angebot eine Nightnanny als Unterstützung zu finanzieren. Die würde das Baby in der Nacht übernehmen und sie einzig zum Stillen aufwecken. Der Gedanke, in der Nacht eine Fremde im Haus zu haben, ist für Marlo zumindest anfangs irritierend. Marlo entscheidet sich dann doch dafür und eines Abends steht Tully (Mackenzie Davis) vor der Tür. Zuerst fühlt sich Marlo von der jungen Frau überrumpelt, als sie ganz routiniert zur Sache geht. Es entwickelt sich jedoch bald eine innige und sehr persönliche Freundschaft zwischen den beiden. Marlo bewundert Tullys Leichtigkeit und Lebensfreude. Mehr über den Inhalt sein aber an dieser Stelle nicht verraten. Gegen Ende wartet der Film mit einer großen Überraschung auf.

Mom, what’s with your body?

Ein interessantes Detail am Rande vorbehaltlich der Authentizität ist die Geburt selbst. Marlo liegt an Maschinen angeschlossen wie eine schwerkranke im Spitalsbett. Das Neugeborene wird ihr sofort genommen und weggelegt. Das ist alles andere als zeitgemäß und hat mit einer normalen Geburt in unseren Breitengraden nichts zu tun. Und noch was: Babywindeln riechen nicht, solange sie ausschließlich Muttermilch zu sich nehmen.

Tully ist über weite Strecken kurzweilig und unterhaltsam aber keine Komödie der großen Lacher, wie das vielleicht der Trailer zum Film suggerierte. Vielmehr ist sie eine Momentaufnahme einer Familie des Bildungsbürgertums, in der es was die Geschlechterrollen betrifft nicht ganz so modern zugeht, wie das nach außen hin zelebriert wird oder man sich selber eingestehen möchte. Das kann durchaus einen Nachdenkprozess in Gang bringen. Ein großer Verdienst für einen Unterhaltungsfilm.

Jason Reitman | USA 2018 | 96 Min | 3.5 out of 5 stars

 

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