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Unsere Wohnanlage wurde im Jahr 2012 fertiggestellt. Bereits in der Tür ins Stiegenhaus befindet sich eine kleine völlig unnötige Schwelle, die Gegensprechanlage ist zu hoch und der Haupteingang ist über Stiegen erreichbar. Für Barrierefreiheit muss man den Umweg über einen ganzen Häuserblock nehmen. In den USA ist so etwas seit dem Americans with Disabilities Act aus dem Jahr 1990 undenkbar. Die Dokumentation Sommer der Krüppelbewegung nimmt ihren Ausgang 1971 in einem Sommercamp für Menschen mit Behinderung. Im Fahrwasser der Bürgerrechtsbewegung von Martin Luther King bildete sich über die Jahre eine Bewegung, die sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung engagierte. Bis dahin konnten diese Menschen meist nicht am öffentlichen Leben teilnehmen. Für den Film erhielt das Regieduo Nicole Newham und James Lebrecht den Publikumspreis beim Sundance Filmfestival 2020 und sie sind bei den Oscars in der Kategorie Bester Dokumentarfilm nominiert.
Es sind erschütternde Bilder aus einer Pflegeanstalt für Menschen mit Behinderungen. Abgemagerte Kinder liegen fast übereinander, beiseite geräumt und vor der Öffentlichkeit verborgen. Ihnen wurde fälschlicherweise oft eine geringe Lebenserwartung prognostiziert. Die Welt draußen ermöglichte ihnen kein normales Leben. Überall stießen diese Menschen auf Hürden: Physische Hürden im öffentlichen Raum, die sie mehr in der Bewegungsfreiheit einschränkten als ihre Rollstühle und Hürden in den Köpfen der nicht behinderten Menschen.
Im Camp Jened hatte man erkannt, dass nicht diese Menschen ein Problem hatten, sondern alle anderen mit ihnen. Hier wurden sie als vollwertige Menschen empfangen und konnten ein freies und glückliches Leben führen, was ihnen damals im Alltag verwehrt blieb. Hier nahm eine nationale Bürgerrechtsbewegung ihren Ausgang und breitete sich später über die ganze Welt aus.
Der Kampf für mehr Rechte sollte sich über mehrere Jahrzehnte erstrecken. Erstmals wurden Menschen mit Behinderung im Jahr 1973 in einem Teil des Rehabilitation Act Bürgerrechte eingeräumt. Abschnitt 504 gewährleistete, dass Kinder und Erwachsene dieselben Chancen im Bildungssektor, Arbeitsleben und anderen Teilen des gesellschaftlichen Lebens bekommen sollten. 1990 wurden dann mit dem Americans with Disabilities Act Diskriminierungen per Gesetz verboten.
Sommer der Krüppelbewegung schildert den mühsamen und emotionalen Kampf gegen den Widerstand der Politik, die meist das Kostenargument vorschob, um eine entsprechende Gesetzgebung zu verhindern. Obwohl damals 40 Millionen Amerikanerinnen betroffen waren. Die Proteste gipfelten in der Besetzung des Gesundheitsministeriums.
Die Dokumentation schärft den Blick für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung. Die Menschen wurden nicht als Frau oder Mann wahrgenommen, sondern auf ihren Rollstuhl reduziert. Im Rollstuhl zu sitzen, war gleichbedeutend wie schwarz zu sein, heißt es einmal. Sommer der Krüppelbewegung ist gleichermaßen unterhaltsam und eine bedeutende Geschichtsstunde. Der Film erzählt davon, wie ziviler Ungehorsam zu einem bahnbrechenden Gesetz für die Gleichberechtigung führte und über die Kraft der Gemeinschaft, die in sozialen Bewegungen liegt. Ein Pflichtfilm.
Sommer der Krüppelbewegung (OT: Crip Camp: A Disability Revolution)
Dokumentation, USA 2020
Regie, Drehbuch Nicole Newnham, James Lebrecht
Kamera Justin Schein
Schnitt Alex Odesmith, Mary Lampson, Eileen Meyer
Musik Bear McCreary
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