Die zehn Tage der 58. Viennale sind vorüber. Vieles war diesmal anders, auf der Leinwand und abseits davon. Großer Respekt gebührt dem Team des Filmfestivals von der künstlerischen Leitung unter Eva Sangiorgi bis hin zu jenen zahlreichen HelferInnen, die einen reibungslosen Ablauf der Vorstellungen ermöglichten. War es genug der Prävention? Das werden wir erst in 2-3 Wochen wissen. Jedenfalls glänzte Bundesminister für Kunst und Kultur Werner Kogler durch Abwesenheit, als Bundespräsident Alexander van der Bellen bei der Eröffnung wertschätzende Worte für die Filmbranche fand. Auch zum Ende der wohl einzigen Großveranstaltung in Wien in diesem Herbst herrschte Stille. So sieht offenbar die Kulturpolitik im Jahr 2020 aus. Was soll man machen. Die Festivalleitung schreibt: „Trotz der um drei Tage verkürzten Dauer und der massiven Verringerung der Sitzplatz-Kapazitäten konnte die Viennale 42.000 Besucher*innen in den Kinosälen begrüßen. Das entspricht einer Auslastung von 74%.“
Das Festival war kürzer, dafür waren fünf neue Kinos mit dabei: der Viennale Circuit. Leider wieder kein Multiplex Kino. Schon vor ein paar Jahren wurde das angedacht, um das Festival einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Gerade in diesem Jahr ist auch der Marktführer in Österreich bemüht, die Versorgung mit neuen Filmen zu gewährleisten. Platz wäre jedenfalls genügend gewesen.
Produktionen aus den USA haben zum Teil gefehlt, ebenso wie Produktionen diverser Streamingdienste, allen voran der Marktführer Netflix, die sich in den letzten Jahren einen fixen Platz im Festivalzirkus errungen haben. Trotzdem: die Viennale bleibt der Ort, an dem man sensationelle Entdeckungen machen kann. Aus meiner Sicht war sie heuer weniger vorhersehbar und hat sich mir erst von Tag zu Tag erschlossen, was die ein oder andere Überraschung ermöglichte.
14 Filme waren es in diesem Jahr. Davon zwei Kurzfilme, ein ungewöhnlich hoher Anteil an Dokumentationen und erfreulicherweise auch österreichischen Produktionen. Hier folgt Teil 2 des Überblicks (-> Teil 1 hier zum Nachzulesen):
Kajillioniare (Miranda July, USA 2020)
Kajillionaire ist erst der dritte Spielfilm der Autorin, Filmemacherin, Multimedia- und Perfomancekünstlerin Miranda July. Zwischenmenschliche Beziehungen sind bei July nichts weniger als bizarr. Eine Familie, bestehend aus Vater Robert (Richards Jenkins), Mutter Theresa (Debra Winger) und deren Tochter Old Dolio (Evas Rachel Wood) schlägt sich als betrügerisches Trio durchs Leben. Das Verhältnis zueinander ist gelinde gesagt distanziert, die Tochter hochgradig verhaltensgestört. Ein Überfall auf eine Postfiliale gleich zu Beginn trägt starke Züge von Perfromancekunst und gibt einen ironischen Ton vor. Trotz Armut und trostloser kalifornischer Industrieviertel ist Kajillionaire nämlich äußerst unterhaltsam. Bei einer Betrügerei gesellt sich Melanie (Gina Rodriguez) zur Familie und stell deren Leben auf den Kopf, natürlich ausgehend von einer an sich schon mehr als schrägen Konstellation.
3.30PM (Ludwig Wüst, A 2020)
Ein ebenso vielseitiger Künstler ist Ludwig Wüst. Seine Filme kommen mit minimalsten Mitteln aus und brechen mit unseren Sehgewohnheiten. Da kann ein Film schon mal aus einer fixen Kameraeinstellung bestehen. So geschehen in Tape End aus dem Jahr 2011. In seiner neuesten Arbeit 3.30PM verzichtet er gleich auf eine konventionelle Kamera und steckt einem seiner zwei Hauptdarsteller eine Spycam ins Knopfloch. Zwei Männer treffen sich nach vielen Jahren wieder in Wien und verbringen ein gemeinsames Wochenende. Beginnend auf einer der letzten Gstättn mitten in der Stadt, verfolgen wir die beiden bei einer lockeren Plauderei in den Prater und dann aufs Land.. Wüst vermag es mit seinen Geschichten trotz dieser stilistischen Reduktion zu fesseln. Neben den beiden Darstellern war nur noch der Tontechniker bei den Dreharbeiten mit dabei. Der Regisseur musste seinem Team – nach einem halben Tag Vorbereitung – komplett freie Hand lassen. Eine spannende Kinoerfahrung.
Effacer l’historique (Benoît Delépine/Gustave Kervern, F/BEL 2020)
Eine Gruppe der Generation 40plus ist in dieser Komödie der zunehmenden Digitalisierung unseres Alltags nicht gewachsen. Die Digital Naiven, wie der deutsche Titel heißt, sagen Google & Co darauf den Kampf an. Eine Satire, bei der der Saal zweigeteilt war. In der linken Hälfte vielen manche vor lachen fast vom Sessel, recht herrschte Schweigen. Ich saß rechts.
Nomadland (Chloé Zhao, USA 2020)
Fern (Frances McDormand) hat alles verloren. Ihren Mann, ihre Arbeit, ihren Wohnort. Nach der Schliessung einer Fabrik, wird die Postleitzahl der Kleinstadt Empire einfach ausgelöscht. Die Frau lebt nun in einem Van und verdingt sich als Tagelöhnerin. Das Jahr wird durch den Kreislauf diverser Jobs beistimmt. Vor Weihnachten arbeitet sie bei Amazon. Sie ist nicht allein: es gibt eine ganze Gruppe von Menschen, die wie Nomaden leben, ohne soziale Kontakte und ohne festen Wohnsitz. Im Laufe des Jahres kommt man dort und da zusammen, auch um der tristen Einsamkeit zu entgehen. Sie alle sind Opfer der in den USA vorherrschenden Rezession. Es ist ein eng mit der Natur verbundenes Leben. Die kalten, rauen und weiten Landschaften Nordamerikas spielen neben der großartigen McDormand ebenso eine Hauptrolle. Nach ihrem bereits beeindruckenden letzten Film The Rider (USA 2017), wird Zhao in dieser Award Saison hoffentlich endlich für ihre Arbeit gewürdigt. Den Goldenen Löwen in Venedig hat sie diesen Herbst schon erhalten.
Epicentro (Hubert Sauper, A 2020)
1898 explodiert der US-Zerstörer USS Maine im Hafen von Havanna. Für Hubert Sauper ist das der Ausgangspunkt seiner ungewöhnlichen Dokumentation über Kuba. Der Vorfall blieb lange ungeklärt, lieferte jedoch den Vorwand für den Krieg zwischen Spanien und den USA und prägt bis heute das Verhältnis der Karibikinsel und den USA. Sauper verknüpft die Geschichte Kubas mit jener der Kinematographie und im speziellen der des Propagandafilmes. Nicht nur die Beziehung zwischen den beiden Ländern, sondern das Leben auf der Insel selbst war und ist durch Propaganda bestimmt. Im Zentrum der Dokumentation stehen Kinder im Volksschulalter, die über die Geschichte ihres Landes reflektieren und darüber hinaus auch über die aktuellen politischen Verhältnisse in den USA erstaunlich gut Bescheid wissen. Der Film beschäftigt sich einerseits mit der realen Lebenssituation der Menschen, öffnet darüber hinaus mehrere Erzählebenen, die beispielsweise den Tourismus thematisieren und uns zahlreiche kleine Geschichten offenbaren. Es ist ein berührender Film über Träume und bittere Lebensrealitäten und es wäre keine Überraschung, wenn es Sauper ein weiteres Mal im Rennen um den Oscar auf die Shortlist für den besten Dokumentarfilm schaffen würde.
The Truffle Hunters (Michael Dweck/Gregory Kershaw, I/USA/GR 2020)
In The Truffle Hunters prallen zwei Welten aufeinander: die alten Trüffelsammler, die um nichts in der Welt ihre geheimen Sammelplätze preisgeben möchten und die Händler, die um ihr Geschäft bangen. Ein melancholisch witziger Film über das Altwerden, über die Beziehung alter Männer zu ihren Hunden und dem drohenden Verschwinden einer alten Tradition in den Wäldern Norditaliens. Für Eva Sangiorgi ein Film, der exemplarisch zeigt, was die Viennale ausmacht.
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