Julio Hernandez Cordon (Comprame un revolver)

Werner Herzog ist in der Stadt. Darum gibt es ein der ersten Hälfte der Viennale 2022 regelrechte Herzog-Festspiele. In jeder Vorstellung seiner Filme (oder jenem über ihn) war er anwesend und stand dem Publikum für Fragen zur Verfügung. Sogar bis nach Mitternacht. Das Programm ist im Jahr 2022 erfreulicherweise wieder dichter geworden. 80 Jahre Werner Herzog. 60 Jahre Viennale. Genug Gründe das Kino zu feiern.

Die Viennale entschloss sich dazu Sparta, den neuen Film von Ulrich Seidl, zu zeigen, der wegen einer Reportage des Spiegel über die Produktionsbedingungen in Rumänien für Aufsehen sorgte (im speziellen in der Arbeit mit Kinderlaiendarstellern). Das Festival wolle ihn zur Diskussion stellen und dem Publikum ermöglichen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Dabei geht es eben nicht um den Film selbst, der die Geschichte einer der Brüder aus Rimini weiterführt. Zu einer Diskussion kam es dann auch nicht. Nach der Premiere im Gartenbaukino wurde eine Videobotschaft von Michael Köhlmeier zugespielt, in der er der Presse Scheinheiligkeit vorwarf und damit für Unmut sorgte. Seidl stellte sich anschließend nicht dem Publikum. Warum auch, er hätte sich nur in einem Saal voller Arbeitskollegen und Wegbegleiter bejubeln lassen können. Für eine Auseinandersetzung war es ohnehin nicht der richtige Rahmen.

Aber wo war die Podiumsdiskussion über die Arbeitsmethoden von Ulrich Seidl, die seine spannenden Arbeiten erst möglich machen? Oder jene über Machtverhältnisse am Set? Nichts dergleichen gab es. Letzteres wird wohl am Ende ein Kernpunkt in der Aufklärung sein. Das Österreichische Filminstitut führt laut dem ORF Kulturmontag gerade eine Untersuchung durch, die so gut wie abgeschlossen ist. Dem Magazin gab Ulrich Seidl sein einziges Interview. Zu sehen gibt es auch einen Ausschnitt aus Köhlmeiers Rede (bis zum 31.10.2022 hier abrufbar).

Meiner Meinung nach ging die Diskussion von Anfang an in die falsche Richtung. Die Vorwürfe gehören aufgeklärt. Letzten Endes wurden für die Film Steuermittel aufgewendet. Nicht klar kommuniziert wurde, dass die Vorwürfe erst drei Jahre nach den Dreharbeiten in einer lokalen Zeitung aufgetaucht sind. Inoffiziell gelten die Vorwürfe heute bereits als widerlegt. Selbst aus Deutschland kommt aus Journalistenkreisen Kritik an der Spiegel Reportage.

Aber nach Bekanntwerden zu sagen, in der Kunst werden eben Grenzen überschritten, wie das vielfach passiert ist, ist nur beschämend und keine Auszeichung für die österreichische Kultur und Medienszene.

Kontrovers wurde – zumindest abseits der Viennale – David Wagners Eismayer aufgenommen. Der Film über den berühmt berüchtigten Vizeleutnant bei der Garde rief Erinnerungen bei jenen wach, die vor gut 25 Jahren von ihm im Hof der Maria-Theresien-Kaserne drangsaliert wurden. Dass Eismayer nun im Gartenbaukino bejubelt wurde, stieß auf Unverständnis. Im Film kommt er tatsächlich gut weg, scheint aber der Realität zu entsprechen. Immerhin erschien er in der Galauniform und sorgte für einen der großen emotionalen Momente bei der Viennale. Mehr weiter unten.

Hier ist eine Auswahl an Filmen der ersten Hälfte der Viennale 2022.

Vera Gemma und Daniel De Palma in Vera (Tizza Covi, Rainer Frimmel, Österreich 2022, V’22 Features)

VERA (Tizza Covi, Rainer Frimmel, A 2022) – Eröffnungsfilm

Man soll Menschen nicht nach ihrem Äußeren beurteilen, sagt Tizza Covi. Sie selbst machte bei Vera Gemma, der Tochter des italienischen Schauspielstars Guliano Gemma, diese Erfahrung. Von Kindheit an durch ihren Vater mit der Filmwelt in Kontakt, gelang es Gemma nie, in der Branche Fuß zu fassen. Zu stark lastet Ruhm des Vaters auf ihren Schultern. Dies ist nun Veras erste Filmrolle, mit der wir sie im semidokumentarischen Stil näher kennen lernen. Es ist eine jener Geschichten, bei denen es sehr schade wäre, wenn sie nicht erzählt würden. Das ist das große Verdienst von Tizza Covi und Rainer Frimmel. Berührend. Eine Entdeckung.


Crimes of the Future, David Cronenberg, Großbritannien/Kanada/Griechenland 2022, V’22 Features

CRIMES OF THE FUTURE (David Cronenberg, Kanada, Großbritannien, Griechenland 2022)

Soll man sich das antun, dachte ich, nachdem ich vergangene Woche den Trailer im Kino gesehen hatte. Bodyhorror à la Cronenberg. Es stellt sich jedoch heraus, dass sämtliche, ja fast alle, expliziten Szenen bereits im Trailer ihren Platz gefunden haben. So schlimm kommt es dann also doch nicht. Die reduzierten atmosphärischen Sets sind sehenswert. Inhaltlich gelingt nicht immer die Balance, um dran zu bleiben oder nicht doch von der Schwere der Thematik regelrecht erschlagen zu werden. Es geht darum, wie sich der Mensch in der Evolution weiterentwickeln wird. Plastik wird dabei eine Rolle spielen. Hinzukommt die obsessive Herangehensweise an Operationen, welche die ProtagonistInnen teilen. Zeitweise nicht uninteressant aber alles in allem diesseits und jenseits der Leinwand schwer verdaulich.


Mutzenbacher, Ruth Beckermann, Österreich 2022, V’22 Features

MUTZENBACHER (Ruth Beckermann, A 2022)

Ruth Beckermann nimmt den Roman Josefine Mutzenbacher als Ausgangspunkt um mit Männern über Sexualität und Geschlechterrollen zu sprechen. Auf dem Sofa Platz nehmen Männer, die einem Castingaufruf gefolgt waren, in dem es augenscheinlich um eine Mutzenbacher Verfilmung ging. Die Kandidaten werden mit Textstellen konfrontiert und sprechen folglich über ihre eigenen sexuellen Erfahrungen und Ansichten. Mit oftmals überraschenden Ergebnissen und Erkenntnissen. Unterhaltsam (wenn auch zu beobachten war, dass das Lachen all zu oft abrupt endete, als das Publikum bemerkte, dass die Protagonisten doch etwas zu sagen hatten) und eine Gratwanderung die Männer nicht bloßzustellen. Was der rezitierende Männerchor zu dieses Analyse beiträgt, sie dahingestellt. Der Roman selbst scheint über weite Strecken recht grauslich zu sein.


Gerhard Liebmann und Luka Dimic in Eismayer, David Wagner, Österreich 2022, V’22 Features

EISMAYER (David Wagner, A 2022)

Für mich der erste Höhepunkt der diesjährigen Viennale. Das Coming-out des gefürchteten Garde Vizeleutnant Eismayer erzählt von Regiedebütant David Wagner. Eismayer war für seine drastischen Ausbildungsmethoden berüchtigt. Was für die damaligen Rekruten eine Tortur war, ist nun auf der Leinwand äußerst unterhaltsam. Der Tonfall ist absurd grotesk. Es muss die Hölle gewesen sein.

Dann fordert ihn Rekrut Falak heraus. Bekennend homosexuell und mit Ambitionen zu einer Karriere beim Heer. Die beiden Hauptdarsteller Gerhard Liebmann und Luka Dimic machen Eismayer zu einem Triumph des österreichischen Films. Für damalige Rekruten mag sich der Film als nachträglicher Freispruch für den Eismayer darstellen. Im Kino ist das eben möglich.

Als sich die realen Vorbilder Eismayer und Falak nach der Premiere in der weißen Galauniform im vollen Gartenbaukino erheben und unter Applaus küssen, ist das ein Moment, der wohl in die Geschichte der Viennale eingehen wird. Als kurz darauf ein damaliger Rekrut ein Frage stellt und Eismayer mit kräftiger Stimme sagt „Ich weiß noch wie du heißt.“ vermutlich ebenso.


Pacification, Albert Serra, Deutschland/Frankreich/Portugal/Spanien 2022, V’22 Features

PACIFICTION (Albert Serra, D/E/F/PRT 2022)

Nachdem Albert Serras Der Tod von Ludwig XVI für mich einer der außergewöhnlichsten Filme der letzten Jahre gewesen ist, waren die Erwartungen an Pacifiction entsprechend hoch. Der Hochkommissar der französischen Republik De Roller, gespielt von Benoît Magimel, läßt sich in einer weißen Limousine und im weißen Anzug durch Tahiti fahren. Im Nachtleben und in Gesprächen mit offiziellen Vertretern versucht er die allgemeine Lage im Land zu analysieren. Scheinbar stehen Unruhen bevor und es geht das Gerücht um, dass Frankreich neuerlich Atomtests plane. Was er davon wirklich weiß, wird nie richtig klar.

In einem fast meditativ langsamen Tempo beobachten wir De Roller, wie er beobachtet und beobachtet wird. Pacifiction hat Elemente des Spionagefilmes, nur das die Observationen nie in auch nur irgendeine dramatische Handlung münden. Es gibt eine latente Spannung. Irgendetwas liegt in der Luft. Die Geduld der Publikums wird, wie so oft bei Serra, gefordert. Die Atmosphäre auf dem Inselstaat erinnert an Apocalypse Now, nur ohne Krieg. Man spürt die drückende Hitze. Im Dschungel ums Haus lauern Gefahren. Sehen tut man sie nicht.


Juliette Binoche und Vincent Lindon in Avec amour et acharnement, Both Sides of the Blade, Claire Denis, Frankreich 2021, V’22 Features

AVEC AMOUR ET ACHARNEMENT/BOTH SIDES OF THE BLADE/FIRE (Claire Denis, F 2021)

Der Film mit den drei Titeln ist eine neuerliche Zusammenarbeit von Claire Denis und Juliette Binoche. Vieles über die Vergangenheit der drei Hauptcharaktere bleibt im Dunkeln. Für manche vielleicht zu viel. Was bleibt sind drei großartige Darsteller, allen voran Juliette Binoche, die in ihren eigene Gefühlswelten gefangen zu sein scheint. Mit der Liebe ist das eben nicht so einfach und Gefühle können schon einmal die Kontrolle über uns erlangen. Diese Ambivalenz greift Denis sehr schön auf, in dieser Dreiecksbeziehung mit Thriller Elementen.


Joely Mbundu und Pablo Schils in Tori et Lokita, Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne, Belgien/Frankreich 2022, V’22 Features

TORI ET LOKITA (Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne, BEL/F 2022)

Die Ungerechtigkeiten, die den Protagonisten in den Filmen von Jean-Pierre und Luc Dardenne widerfahren, sind streckenweise schwer erträglich. Aber es ist wichtig hinzusehen, wenn das Regieduo wieder einmal die unmenschlichen Bedingungen aufzeigt, denen, wie hier zum Beispiel ein Bub und eine jungen Frau, ausgesetzt sind. Auf der Flucht haben sie sich kennengelernt und schlagen sich als Schicksalsgemeinschaft durch, in dem sie sich als Geschwister ausgeben. Schnell kommt es zum Kontakt mit der Drogenszene. Geld musst herangeschafft werden. Nicht nur um zu überleben, sondern auch um die Schlepper zu bezahlen und Geld in die Heimat zu schicken. Selbst von dort kommt ein gehöriger Druck. Voller Empathie zwar, wie wir es von den Dardenne kennen, aber mit kaum einem Funken Hoffnung.


The Fire Within: A Requiem for Katia and Maurice Krafft, Werner Herzog, Frankreich/Großbritannien/Schweiz/USA 2022, V’22 Features

THE FIRE WITHIN: A REQUIEM FOR KATIA AND MAURICE KRAFFT (Werner Herzog, CH/F/GB/USA 2022)

Neuerlich hat Werner Herzog ein Archiv durchstöbert und daraus einen der für ihn typischen Filme erschaffen, in dem die Grenzen zwischen ihm und dem Drehmaterial teilweise zu verschwimmen scheinen. Mit dem unverkennbaren Audiokommentar zeigt er uns die atemberaubenden Aufnahmen der beiden Vulkanologen Katia und Maurice Krafft. Zuerst Wissenschaftler, dann Amateurfilmer, entwickelten sich die beiden zu professionellen Filmemachern. Ihr Vermächtnis möchte uns Herzog präsentieren und keine gewöhnliche Biografie, so wie es ursprünglich der Auftrag gewesen war. Ganz im Sinne des 1991 in Japan in einem pyroklastischen Strom umgekommenen Ehepaars. Mittels spektakulären Aufnahmen von Naturgewalten, die man kaum in Worte fassen kann, auf die Gefahren von Vulkanen zu verweisen. Herzog ist schon davon überzeugt, dass das was er macht ziemlich gut ist. Recht hat er.


Werner Herzog – Radical Dreamer, Thomas von Steinaecker, Deutschland/Großbritannien/Spanien/USA 2022, V’22 Features

WERNER HERZOG – RADICAL DREAMER (Thomas von Steinaecker D/E/GB/USA 2022)

Werner Herzog ist ja nicht gerade ein zurückhaltender Mensch, also jemand, der in seinem Umfeld schnell die Kontrolle übernimmt. Das merkt man bei jeden seiner Auftritte. Umso mutiger ist es, sich einen Film über ihn vorzunehmen. Herzog hat Thomas von Steinaecker volle die Gestaltungsfreiheit überlassen, auch wenn er immer wieder zittern musste, dass der Herzog ihm doch etwas dreinredet. Das war am Ende unbegründet. Zum Q&A ist er dann auch nicht gekommen, da er Steinaecker die Bühne überlassen wollte. Radical Dreamer ist sehr gelungen. Viel ist schon bekannt über Herzog, so hört man altbekannte Anekdoten aber erfährt in knapp zwei Stunden auch Neues über sein immens großes Schaffen. Nicht nur für Fans sehenswert. In den letzten Tagen hat sich mir wieder gezeigt, dass Werner Herzog in den USA zwar ein richtiger Kultregisseur ist, ihn hierzulande aber viele gar nicht kennen. Eine gute Gelegenheit für eine erste Kontaktaufnahme.


Theater Of Thought, Werner Herzog, USA 2022, V’22 Features

THEATER OF THOUGHT (Werner Herzog, USA 2022)

Im Grunde ist Theater of Thought über weite Strecken eine Reportage, wie man sie aus TV-Magazinen kennt. Werner Herzog interviewt – nein, er führt Gespräche, wie er betont – namhafte WissenschafterInnen der Neuronenforschung. Was spielt sich in unserem Gehirn ab? Träumen Fische? Mit manchen Fragen überrumpelt der Regisseur sein Gegenüber. Seine Neugierde macht seine Dokumentationen aber erst zu etwas besonderem. Es geht um die Gegenwart aber auch um die Zukunft der Forschung. Bereits jetzt ist es möglich, Microchips in das Gehirn zu pflanzen, um beispielsweise Parkinsonpatienten das Leben zu erleichtern. Der Blick in die Zukunft der technologischen Entwicklungen ist faszinierend wie erschreckend zu gleich. Für den Nachspann hat Herzog Namen erfunden. Der Film entstand im Team zu viert. Das zu zeigen, war ihm einfach unangenehm.


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