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Ganze 16 Jahre nach seiner letzten Regiearbeit bringt uns Schauspieler und Regisseur Todd Field (Little Children, 2006) sein neuestes Werk, zu dem er neuerlich das Drehbuch verfasst hat: die fiktive Künstlerbiographie Tár wird gefeiert und steht gleichzeitig in der Kritik, wegen ihrer weiblichen Perspektive auf das Dirigat im Kontext von Machtmissbrauch. Es dürfte am Ende aber eine großer Erfolg werden für Field und seine Hauptdarstellerin Cate Blanchett, die bereits als sichere Bank bei den diesjährigen Oscars gilt. In stolzen 158 Minuten – zur Abwechslung einmal keine zu viel – breitet sich vor uns ein audiovisuelles Kunstwerk aus. Was einen himmelschreiend prätentiösen Anfang nimmt, formiert sich zu einer Abwärtsspirale dem Abgrund entgegen. Genial hinein bis in das kleinste Soundschnipsel.

Darum geht es

Lydia Tár (Cate Blanchett) hat was drauf. Sie leitet ein Orchester in Berlin und der Film nimmt sich zuerst ausladend Zeit, um vor uns ihre beeindruckende Biografie auszubreiten. Tár befindet sich gerade mitten in den Proben zu Gustav Mahlers 5. Symphonie. Nebenbei geht sie einer Lehrtätigkeit nach, präsentiert ihre eigene Biografie und hat Personalentscheidungen zu treffen. Sie lebt mit der 1. Geigerin des Orchesters zusammen. Mit Sharon (Nina Hoss) hat sie eine gemeinsame Tochter.

Ihren StudentInnen – wie auch ihrem gesamten Umfeld – tritt Tár herablassend gegenüber. Als sich eine andere Dirigentin das Leben nimmt, gerät Tár in den Verdacht, daran nicht ganz unschuldig zu sein. In diesem Spannungsfeld befindet sich neben ihrer Frau Sharon auch ihre persönliche Assistentin Francesca Lentini (Noémie Merlant). Als eine neue Stelle im Orchester zu besetzen ist, fällt die Wahl in einem blinden Vorspiel auf die junge Musikerin Olga Metinka (Sophie Kauer). Unruhe kommt ins Orchester und in das persönliche Umfeld von Tár. Nicht nur wegen ihres exzentrischen Auftretens, sondern auch weil sich die Anschuldigungen gegen sie verdichten. Sie soll ihre Machtposition gegenüber anderen MusikerInnen wiederholt ausgenutzt haben. Tár steht zusehends mit dem Rücken zur Wand, beteuert aber ihre Unschuld.

Nina Hoss und Cate Blanchett liegen sich in den Armen.
Nina Hoss und Cate Blanchett in Tár (Todd Field, USA 2022).

Kommentar

Österreich hat ihr vielleicht eine Sonderstellung. Selbst wenn man noch keinen unserer Konzertsäle von Innen gesehen hat, sind Namen wir Karajan oder Harnoncourt einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Den Goldenen Saal im Musikverein würden wohl auch viele erkennen können. Nicht zuletzt Dank der TV- Übertragungen des ORF. Unter anderem horrende Kartenpreise (wobei sich hier die U-Musik der E-Musik gerade mit großen Schritten annähert) schränken den Kreis jener, die sich – regelmäßig – der klassischen Livemusik hingeben doch stark ein.

So entwickelt sich rund um ein großes Orchester zwangsläufig ein Mikrokosmos. Hier hat alles seinen Platz. Die hierarchisch strenge Ordnung erinnert an jene des Militärs. Es ist eine alles andere als demokratische Umgebung. Ihr steht eine Leitung vor, die sich gern Maestro nennen lässt, so wie auch Lydia Tár in Tár. Todd Fields Requiem nimmt auch hier seinen Anfang. Tár lässt sich in einem Künstlergespräch abfeiern. Die Biografie ist beeindruckend. Sie ist gebildet, philosophiert vor sich sich hin. Das Publikum lauscht gebannt. Wenn man derart angehimmelt wird und mitunter gut 100 MusikerInnen unter sich hat, ist der Machtrausch auch nicht mehr weit.

Time is the essential piece of interpretation.

Lydia Tár in Tár.

Bei Lydia Társ Probenarbeit, die sich durch den gesamten Film zieht, kann man das gut erkennen. Ebenso bei ihrer Lehrtätigkeit oder in den privaten vier Wänden. Der Umgangston ist, sagen wir mal so, bestimmend. Im Wohnzimmer, sowie im Schulhof. Reale Vorbilder, bei denen Machtmissbrauch oder sexueller Missbrauch im Spiel waren, sind bekannt. Regisseur Field stellt in seine fiktiven Biografie nun eine Frau ans Dirigentenpult. Das hat ihm Kritik eingebracht, nicht zuletzt von Marin Alsop, der Chefdirigentin des ORF Radio-Symphonieorchesters (hier).

Nun ist dem der fulminante Erfolg Cate Blanchetts gegenüberzustellen. Getragen von einer nahezu unerträglichen Präpotenz verkörpert sie Tár mit einer derartigen Intensität, dass an ihr in diesem Jahr kein Weg vorbeiführt. Um sie herum hat Todd Field Räume gebaut, die sich nahtlos in die Gefühlswelt von Tár und die Musik von Mahler, Guðnadóttir und Elgar einfügen. Kalt und meist grau und düster sind sie und man wird kaum einen wohligen Ort finden können. Die Musik wird ergänzt durch Geräusche, die Tár zusehends als Störung empfindet und sie mehr und mehr paranoid werden lassen. Von der ersten bis zur letzten Szene ist es ein kontinuierlicher Abstieg, der uns in das Innerste der Protagonistin blicken lässt. Es wurde an andere Stelle schon mehrfach erwähnt, dass hier Erinnerungen an Michael Haneke wach werden. Das kann man nicht anders als ein Kompliment auffassen.

Was da in der letzten Szene genau abgeht, hat sich mir nicht sofort bis ins Detail erschlossen. Geschenkt, kann man nachlesen. Es gibt hier auch einen Interpretationsspielraum. Befinden wir uns hier bereit im Kopf von Tár und haben die Realität längst verlassen? Vielleicht ist es auch nicht wichtig. Die Aussage ist klar. Sie ist vernichtend für Lydia Tár.

Tár
Drama, USA 2022
Regie Todd Field
Drehbuch Todd Field
Kamera Florian Hoffmeister
Schnitt Monika Willi
Musik Hildur Guðnadóttir
Mit Cate Blanchett, Nina Hoss
Länge 158 Min.


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