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Es gibt Filme, auf die kann man nicht vorbereitet sein. Sie treffen einen mit voller Wucht. Das passiert vor allem dann, wenn uns die Menschen und ihre Schicksale nahe gehen, wenn wir plötzlich mit Dingen konfrontiert werden, die so nicht erwartbar waren, wenn sie den Rahmen einer gewöhnlichen Erzählung sprengen. All the Beauty and the Bloodshed ist weitaus mehr als das Porträt von Nan Goldin, der vielleicht bedeutendsten Fotografin unserer Zeit. Es ist eine Geschichte über Verzweiflung und Hoffnung zugleich, über den Kampf von AktivistInnen gegen einen übermächtigen Pharmakonzern und dessen Eigentümer. Es ist in der Arbeit von Regisseurin Laura Poitras nach Citizenfour (2014) und Risk (2016) über Snowden und Asange vielleicht so etwas wie die logische Fortsetzung. Ein weiterer Kampf David gegen Goliath. Dafür wurde sie in Venedig 2022 mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Einer der Höhepunkte der vergangenen Kinosaison endlich auch im Kino

Darum geht es

All the Beauty and the Bloodshed ist ein Porträt der berühmten Fotografin Nan Goldin und legt einen Fokus auf ihre aktivistischen Aktivitäten gegen die Familie Sackler ab 2019, deren Pharmakonzern für die Opioid Epidemie verantwortlich ist, der hunderttausende Menschen zu Opfer fielen. Die von Goldin gegründete Interessensvertretung P.A.I.N. (Prescription Addiction Intervention Now) prangerte dabei das Kunstsponsering der Sacklers an und setzte Kulturinstitutionen unter Druck, deren Kooperationen zu beenden.

Nan Golding steht in einer Gruppe von Aktivistinnen vor dem Louvre in Paris und gibt ein Fernsehinterview.
All the Beauty and the Bloodshed (Laura Poitras, USA 2022)

Kommentar

Nan Goldin, geboren 1953 in Washington D.C., ist unter schwierigen Familienverhältnissen aufgewachsen. Sie ist 11, als sich ihre ältere Schwester das Leben nimmt. Eine Zäsur in ihrem Leben. Schon sehr früh verläßt sie die Familie, nimmt Drogen. Aber bereits als Teenager nimmt sie zum ersten Mal einen Fotoapparat in die Hand und bringt in ihrer Arbeit Randgruppen in den Fokus, die dem Großteil der Gesellschaft verborgen bleiben. LGBT Subkulturen finden sich in ihren Bildern wieder, lange bevor sie im Mainstream angekommen waren, ebenso wie die HIV/AIDS Pandemie. In The Ballad of Sexual Dependency aus dem Jahr 1985 porträtiert Goldin die Schwulen und Lesben Szene in der Bowery Street in Lower Manhattan, ebenso wie die Folgen von Heroinsucht aber auch auch ihr persönliches Leben. Eine etwa 45-minütige Slideshow unterlegt mit Opern, Rock, Pop und Blues Musik. Die Arbeit gilt als wegweisendes Kunstwerk der 1980er Jahre.

2017 gab Goldin bekannt, dass sie sich gerade von einer Opioid Abhängigkeit erholt hatte. Nach einer Operation hatte sie OxyContin als Schmerzmittel erhalten. Vertrieben wurde es von Purdue Pharma, die aber nicht auf das Abhängigkeitspotential hinwiesen. Wäre Goldin nicht eine Person des öffentlichen Lebens, wäre sie wohl gerade mit ihrer Biografie eines von hunderttausenden anonymen Opfer geblieben. Als Frau, die ihre Arbeit Zeit ihres Lebens als politisch und aktivistisch verstanden hat, startete sie eine Initiative gegen den Pharmakonzern der Familie Sackler. Von diesem Kampf handelt All the Beauty and the Bloodshed in weiten Teilen.

Die Familie Sackler hatte sich dem Kunstsponsoring verschrieben. Ganze Gallerien trugen ihren Namen, darunter der Louvre, Solomon R. Guggenheim Museum, Tate Gallery und Victoria and Albert Museum. Nan Goldin nutzte ihre Stimme als anerkannte Künstlerin, um gegen die Museen Druck zu machen und auf diesem Weg Gerechtigkeit walten zu lassen. Es ist ein Paradebeispiel für gelungenen Aktionismus, gerade zu einer Zeit, wo diese Protestform in der Kritik steht.

All the Beauty and the Bloodshed ist in enger Zusammenarbeit von Laura Poitras und Nan Goldin entstanden. Es ist das Porträit einer im ersten Moment verletzlich wirkenden aber in Wahrheit unglaublich furchtlosen und mutigen Künstlerin. Die Dokumentation wurde vielfach ausgezeichnet und war 2023 für einen Oscar nominiert (der Preis ging in diesem Jahr an Nawalny von Daniel Roher). Das Medikament wird unter einem neuen Namen auch heute noch vertrieben und zur Betäubung und bei sehr starken Schmerzen eingesetzt.


All the beauty and the bloodshed
Dokumentation, USA 2022
Regie Laura Poitras
Kamera Nan Goldin, Clare Carter, Robert Kolodny, Alexander W. Lewis, Laura Poitras, Sean Vegezzi, Thom Pavia
Schnitt Amy Foote, Joe Bini, Brian A. Kates
Musik Soundwalk Collective, Dawn Satter Madell
Mit Nan Goldin
Länge 117 Min
Im Kino


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