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Der zweite Film der französischen Autorenfilmerin Julia Ducournau (Raw) präsentiert sich so kompromisslos wie ein Auto, das ungebremst auf einen Baum zurast. Geschichten, wie jene die Titane erzählt, erfreuen sich nur selten einer breiteren Aufmerksamkeit. Bodyhorror in Kombination mit Genderfragen und Science-Fiction ist, keine Frage, speziell. Bei den Filmfestspielen in Cannes erhielt Julia Ducournau mit der Goldenen Palme eine der höchsten Auszeichnungen, die die Filmwelt zu vergeben hat. Die unkonventionellste Regieentscheidung seit gut einem Jahrzehnt. Ein außergewöhnlicher Film für außergewöhnliche Zeiten.
Darum geht es
Als kleines Mädchen erhält Alexia (Agathe Rousselle) nach einem schweren Autounfall ein Titanpräparat in den Kopf gesetzt. Fortan fühlt sie sich zu Autos körperlich hingezogen. Als Erwachsene verdient sie ihr Geld als Tänzerin auf Autoshows. Und sie ermordet Menschen auf brutalste Weise. Sie hat Sex mit einem Lowrider Showauto und wird davon schwanger. Auf der Flucht vor der Polizei nimmt sie die Identität eines vor langer Zeit verschollenen Buben an. Dessen Vater Vincent (Vincent Lindon), ein Feuerwehrhauptmann, nimmt sie bei sich auf, ohne groß Fragen zu stellen.
Kommentar
Alexia ist auf der Suche. Befriedigung findet sie weder in Beziehungen zu Männern, noch zu Frauen. Sie arbeitet sich an ihrem eigenen Körper ab. Das ist schmerzhaft. Selbst beim Zuschauen. Die Phase der Schwangerschaft, in der die Frau die Kontrolle über ihren eigenen Körper zu verlieren scheint, wird bei Julia Ducournau noch einmal intensiviert. Gewalt nicht nur beim morden, sondern auch am eigenen Leib.
Genauso auf der Suche ist Vincent. Als nach mehr als einem Jahrzehnt scheinbar eine Möglichkeit besteht, seinen Sohn zurückzubekommen, verschließt er die Augen vor jeglicher Unsicherheit. Zusammen geben die beiden eines der ungewöhnlichsten Paare der Filmgeschichte ab. Eine Vater-Sohn/Tochter Beziehung.
Es ist ein genialer Einfall der Regisseurin, den zweiten Teil des Filmes in einem zutiefst männlichen Umfeld anzusiedeln. Vincent und seine Truppe von hormongetriebenen Feuerwehrmännern sind eine gute Tarnung für Alexia. Gleichzeitig provoziert Ducournau auch hier Geschlechterfragen.
Man kann in Titane nach Lust und Laune in Metaebenen abtauchen oder sich von den Bildern von Rubens Impens und dem Soundtrack verführen lassen. Wie zum Beispiel in der Sequenz auf der Automesse gleich zu Beginn, in der sich Alexia zur Musik von Doing It To Death von The Kills auf einem Boliden räckelt und aus der das großartige Titelbild entstammt.
In Cannes wird der Hauptpreis nicht selten nach sozialkritischen Gesichtspunkten vergeben. So ist die heurige Juryentscheidung unter dem Vorsitz von Spike Lee nur auf den ersten Blick ungewöhnlich. Titane fügt sich wunderbar in die Reihe ruhmreicher Vorgänger wie Shoplifters und Parasite ein. Mit dem Unterschied, dass es hier ein Vertreter eines sonst eher im Abseits stehendes Subgenres ganz nach oben geschafft hat. Ein Beispiel dafür, was im Kino alles möglich ist.
Titane
Drama, F/BE 2021
Regie Julia Ducournau
Drehbuch Julia Ducournau
Kamera Ruben Impens
Schnitt Jean-Christophe Bouzy
Musik Jim Williams
Mit Agathe Rousselle, Vincent Lindon
Länge 108 Min
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