Wenn die Oscars irgendwie die Spitze des Eisbergs sind, dann kann man anhand der heurigen Nominierten erahnen, dass es nicht das stärkste Filmjahr gewesen ist. Da ist diesmal deutlich mehr als ein lucky-to-be-there Kandidat dabei. Dafür ist das Jahr 2021 an einer ganz anderen Front aufgefallen. Das zweite Jahr der Pandemie hat uns eine Fülle an großartigen Musikdokus beschert. Es finden sich große Namen vor und hinter der Kamera. Nahezu sämtliche Filme sind über Streamingdienste verfügbar.
Bereits vor einen Jahr wurde Billie Eilish: The World’s a little blurry (AppleTV+) veröffentlicht. Die Dokumentation gibt spannende Einblicke in das Leben des jungen Popstars. Mehr dazu hier. Billie Eilish ist in dieser Auflistung insofern die Ausnahme, weil alle anderen Filme gleich mehrere Jahrzehnte zurückblicken.
Auf wenige Tage im Jänner 1969 konzentriert sich The Beatles: Get Back (Disney+) von Peter Jackson. In drei Teilen und sage und schreibe 468 Minuten sehen wir die vier Musiker bei der Arbeit. Wie schon bei Jacksons They Shall not grow old (2018, AppleTV+, gegen Gebühr) verbirgt sich hinter der Dokumentation eine technische Meisterleistung. Neuerlich wurde das Filmmaterial digitalisiert, verfeinert, koloriert und in 4K-Qualität umgewandelt. Noch nie waren die Beatles scheinbar so zum Greifen nahe. Es ist ein intimes Zeitdokument, dass die Gruppe der Nachwelt hinterlassen hat. Die Beatles befanden sich bereits in einer Krise, die sie nicht mehr überwinden konnten. Paul McCartney versuchte die Band noch einmal zu einem Liveauftritt, dem ersten seit August 1966, zu bewegen, was die anderen Mitglieder anfangs ablehnten. Der Film zeigt die Probenarbeit zu ihrem letzten Album Let it Be, die mit ihrem letzten Liveauftritt, dem Rooftop-Konzert auf dem Dach des Abbey Road Studios, ihr Ende fanden.
Dazwischen liegen drei Wochen, in denen ständig die Kameras und Mikrofone auf die Band gerichtet waren. Albernheiten, Spannungen und geniale Improvisationen machen diese Stunden zu einem wahren Genuss für Musikliebhaber. Die Bild- und Tonqualität ist so überwältigend, dass man fast ein Eindruck erhält, mit ihnen im Studio zu sitzen. In einer Sequenz improvisiert McCartney auf der Gitarre und man ist hautnah dabei, wie er sich in wenigen Minuten an die Melodie von Get Back herantastet. Klar zu spüren ist die Dominanz von Lennon und McCartney gegenüber den anderen beiden Bandmitgliedern. George Harrisons Versuche, sich mehr einzubringen, werden schnell im Keim erstickt. Das führt zu dem dramatischen Höhepunkt der Dokumentation, als Harrison nämlich beschließt, die Band zu verlassen. Erst realisieren es die anderen nicht so recht, doch spätestens am nächsten Morgen kommt die Ernüchterung. Es ist der Moment, als eine der größten Bands des 20. Jahrhunderts kurz vor dem Aus steht. Die knapp acht Stunden von The Beatles: Get Back sollte man sich nicht nur als Beatles Fan nicht entgehen lassen. Sie verraten auch, mit welchen gruppendynamischen Prozessen Bands zu kämpfen haben.
Mehr als ein halbes Jahrhundert später steht Paul McCartney mit Rick Rubin im Tonstudio und hört sich die Bänder der Originalaufnahmen der Beatles an. In McCartney 3,2,1 (Disney+) erfahren wir, wie einzelnen Passagen entstanden sind und woher so mancher Titel stammt. Die Melodie von Hey Jude beispielsweise kam ihm im Schlaf. Es ist fast ein Wunder, dass sie überhaupt erhalten blieb. Aufnahmegerät war damals natürlich so schnellt keines zur Stelle. Zumal sich McCartney nicht sicher war, ob er da überhaupt nur eine fremde Melodie aus seiner Erinnerung abgerufen hatte. Es ist jedenfalls erstaunlich, mit welch Begeisterung er sich seine alten Kompositionen auch heute noch anhören kann und Anekdoten darüber erzählt. Rick Rubin, der bloßfüßige Rübezahl, hört nicht weniger gespannt zu als wir selbst.
Zwei namhafte Regisseure haben sich zwei weiteren legendären Bands angenommen. Edgar White gibt in The Sparks Brothers („When do i get to sing „My Way““) einen pointierten Überblick über die Karriere der Sparks. Die Brüder Ron und Russell Mael sind seit Anfang der 1970er bekannt für ihre exzentrischen Auftritte und ihren experimentellen Sound. Trotzdem sie sich immer gegen alle Konventionen stellten, ist die Band seit Jahrzehnten erfolgreich und gerade deswegen auch Inspiration für zahlreiche Musiker ab den 1980er Jahren. Von den Sparks ist zudem der Soundtrack von Leo Carax‘ Annette. Die Dokumentation gibt es zur Zeit auf diversen Plattformen zum Ausleihen.
Todd Haynes‘ The Velvet Underground (AppleTV+) behandelt die Phase von der Gründung bis zu dem Moment, als Lou Reed die Band verlässt. Die Bandmitglieder John Cale und Maureen Tucker kommen zu Wort. Der Film erfasst die Band als Phänomen ihrer Zeit und weniger als klassische Rockband. The Velvet Underground war nicht zuletzt wegen des Produzenten Andy Warhol stark im Umfeld der Factory verankert. Ihr Einfluss auf kommende Musiker war enorm. Haynes verwendet über weite Strecken Splitscreens und so erhält man den Eindruck einer Collage. Durch den eigenwilligen Stil gelingt es den experimentellen Charakter der Band einzufangen. Ein Film nicht nur über Musik, sondern über Kunst an sich. Man bekommt sofort Lust wieder The Velvet Underground zu hören.
Eines der großen Ereignisse des vergangenen Jahres ist Summer of Soul (…Or, When the Revolution Could Not Be Televised) (Disney+). Der Dokumentarfilm von Questlove (The Roots) zeigt bisher unveröffentlichtes Filmmaterial des Harlem Cultural Festival. Es fand im Sommer 1969 an sechs Sonntagen im Mount Morris Park in New York City statt. Während das zur gleichen Zeit nicht weit entfernt stattfindende Woodstock Festival einen hohen Bekanntheitsgrad errang, war bis jetzt über diese Konzertserie, der rund 300.000 Menschen beiwohnten, kaum etwas bekannt. Das lag daran, dass damals kein Interesse an einer Veröffentlichung der vielen Stunden Filmmaterial bestand und ist damit, dass sich die Veranstaltung explizit an schwarze AmerikanerInnen richtete. Wir der Titel verrät, wurde das Konzert, bis auf einige wenige Ausschnitte nie ausgestrahlt. Dabei traten KünstlerInnen wie Nina Simone, Stevie Wonder, B. B. King, The Fifth Dimension und viele mehr auf. Das Festival war ein starkes Lebenszeichen der schwarzen Bevölkerung, die noch unter dem Schock der Ermordung von Martin Luther King und deren Folgen standen. Summer of Soul ist sowohl ein musikalisches als auch gesellschaftspolitisches Zeitdokument.
Billie Eilish: The World’s a little blurry
Dokumentation, USA 2021
Regie R. J. Cutler
Drehbuch R. J. Cutler
Schnitt Lindsey Utz
Musik Billie Eilish, Finneas O’Connell
Mit Billie Eilish, Finneas O’Connell
Länge 140 Min.
Streamingplattform Apple TV+
The Beatles: Get Back
Dokumentation, UK/NZ/USA 2021
Regie Peter Jackson
Kamera Ben Davis
Schnitt Jabez Ollsen
Länge 468 Min.
Streamingplattform Apple TV+
Paul McCartney 3,2,1
Dokumentation USA 2021
Regie Zachary Heinzerling
Kamera Stuart Winecoff
Länge 6 Episoden, je ca. 30 Min.
Streamingplattform Disney+
The Sparks Brothers
Dokumentation, USA UK/USA 2021
Regie Edgar Wright
Kamera Jake Polonsky
Schnitt Paul Trewartha
Länge 140 Min.
Auf diversen Plattformen zum Leihen verfügbar
The Velvet Underground
Dokumentation, USA 2021
Regie Todd Haynes
Kamera Edward Lachman
Schnitt Affonso Goncalves, Adam Kurnitz
Länge 110 Min.
Streamingplattform Apple TV+
Summer of Soul (…Or, When the Revolution Could Not Be Televised)
Dokumentation, USA 2021
Regie Ahmir „Questlove“ Thompson
Kamera Shawn Peters
Schnitt Joshua L. Pearson
Mit Nina Simone, BB King, Mahalia Jackson, Stevie Wonder, The 5th Dimension, uvm.
Länge 117 Min.
Streamingplattform Disney+
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