Nach in diesem Jahr nur 13 gesichteten Filmen ist das mit dem Resümee vielleicht etwas schwierig. Trotzdem wage ich zu sagen: hier ist sie, die Coronaflaute, zumindest was die Breite des Angebots angeht. Die Filme sind nicht selten im vergangenen Jahr unter strengen Auflagen entstanden. Es ist aber nicht so, als herrsche Stillstand. Ganz im Gegenteil. Sean Baker (The Florida Project) konnte unter diesen Bedingungen ein geplantes (größeres) Projekt nicht umsetzen und besinnte sich seiner Wurzeln. Red Rocket entstand mit einem sehr kleinen Team und unter anderen Umständen würde dieser wunderbare Film schlicht nicht existieren. So gesehen beflügelte die Pandemie die Fantasie so mancher FilmemacherInnen (siehe auch Homemade, die Lockdown-Serien-Anthologie auf Netflix).
Was bedeutet das aber nun für ein Filmfestival wie die Viennale, das einen Überblick der laufenden Saison ermöglicht? Die 59. Ausgabe des Festivals endete vor einem Feiertag und war neuerlich um drei Tage kürzer. Dafür war im Filmmuseum nicht die Retrospektive sondern unter anderem das Kurzfilmprogramm zu sehen. Die BesucherInnenzahl steigerte sich auf 58.200. Die Auslastung bliebt im Vergleich zum Vorjahr exakt gleich bei 74%, obwohl in diesem Jahr die Säle bis auf den letzten Platz gefüllt werden durften. Spiegelt sich hier der Ärger über den missglückten Vorverkaufsstart wieder?
Manch vorprogrammierter Publikumsmagnet war bei weitem nicht voll besetzt. Lag natürlich auch daran, dass Spencer von Pablo Larraìn an einem Arbeitstag um 11:30 gezeigt wurde. Mit L’évènement von Audrey Diwan, dem diesjährigen Gewinner des Goldenen Löwen, wurde das Festival eröffnet. Ein starker und wichtiger Film, der das Publikum ganz schön forderte. Ob er sich aber als Eröffnungsfilm eignet, sei dahingestellt. In jeden Fall ein wichtiges Statement.
Als jemand der beim Fernsehen tätig ist, kann ich die mäßig witzige Satire France von Bruno Dumont nicht unkommentiert lassen. Sein Generalangriff gegen die Glaubwürdigkeit der Medien mutet in der heutigen Zeit seltsam an, wo gerade Qualitätsmedien unter Druck stehen. Mit seiner Abneigung gegen das Fernsehen hielt der Regisseur auch im anschließenden Publikumsgespräch nicht hinter dem Berg. Im Gegensatz zu Fernsehnachrichten hätte der Film nicht den Anspruch auf Wahrheit oder würde diesen auch nicht versuchen vorzutäuschen. Was Dumont den Fernsehnachrichten jedoch vorwirft. France lief zur besten Zeit im Gartenbaukino. Genau so wie Benedetta von Paul Verhoeven, der Teile des Publikum eher ratlos zurückließ.
Einen der stärksten Filmmomente lieferte wohl Große Freiheit von Sebastian Meise, als der Protagonist im Gefängnishof erfahren muss, dass sich ein enger Freund gerade das Leben genommen hatte und ihn alle Mitinsassen teilnahmslos anstarren, er über den Hof taumelt und endlich ein anderer auf ihn zugeht, nur um ihn zu umarmen. Man bekommt für einen Moment das Gefühl, wie es ist, wenn eine Welt zusammenbricht und niemand für einen da ist.
Gegen Ende kam dann einer der Höhepunkte dieses Filmjahres. Mit The Card Counter beweist Paul Schrader aufs Neue, das er in einer eigenen Liga spielt (mehr siehe unten).
Toby Bull versucht in seiner sechsminütigen Dokumentation Some Kind Of Intimacy über eine Schafherde mit seinen verstorbenen Eltern zu kommunizieren. Durch die Bilder entsteht gemeinsam mit dem Kommentar aus dem Off auf einer ganz neuen Ebene auf eine faszinierende Art und Weise ein eigener Film im Kopf. Die Viennale ist immer schon ein Ort für Entdeckungen gewesen. Die Fülle des Programms erlaubt es jedem/r, das Festival anders zu erleben und persönliche Höhepunkte zu erkunden. Nur die angesagten Höhepunkte waren in diesem Jahr zu einem erklecklichen Teil keine.
Nach der Viennale – Halbzeit hier nun einige weitere Filme des Festivals im kurzen Überblick:
The Land of Dreams (Shirin Neshat, USA 2021)
Wenn sie da so auf der Bühne stehen und sich nach dem Film vom Publikum beklatschen lassen, merkt man, da prallen Welten aufeinander: die Regisseurin und Multimediakünstlerin Shirin Neshat und Matt Dillon, das um zwei Köpfe größere Teenidol der 1980er Jahre. In Land of Dreams wirkt Dillon tatsächlich wie ein Fremdkörper und das obwohl es der erste Film von Neshat ist, den sie in ihrem Exil in den USA gedreht hat.
Der Film basiert auf einem Kunstprojekt von 2019, in dem Neshat von Tür zu Tür ging, um sich von Menschen ihre letzten Träume erzählen zu lassen und sie anschließend mit dem Fotoapparat portraitierte. Jean-Claude Carrière hat daraus sein letztes Drehbuch gemacht. In einer nahen Zukunft arbeitet Simin (Sheila Vand) für die Census Behörde. Auch nach ihren letzten Träume soll sie die Menschen befragen. Begleitet wird sie von Alan, gespielt von Matt Dillon, der ihr Personenschutz geben soll.
Der Film ist stark geprägt von performativer Konzeptkunst. Die Grenzen zwischen Traum und Realität verschwimmen, ebenso wie zwischen den USA und dem Iran. Nicht zufällig wählte Neshat New Mexico als Drehort, dessen Landschaft jener des Iran sehr ähnlich ist. Für viele Exiliraner ist das eigene Land nur mehr eine schmerzliche Erinnerung. Die Regisseurin stellt die Frage, was bleibt und was für immer aus der Erinnerung verschwindet.
The Power of the Dog (Jane Campion, USA 2021)
28 Jahre nach ihrem großen Erfolg Das Piano wurde Jane Campion in diesem Jahr bei den Filmfestspielen mit dem Silbernen Löwen für die Regie von The Power of the Dog ausgezeichnet. Das Leben des ungleiches Brüderpaars, gespielt von Benedict Cumberbatch und Jesse Plemons, nimmt in den USA der 1920er Jahre eine entscheidende Wendung, als einer von beiden heiratet und auf einmal eine Frau (Kirsten Dunst) und ein Junge (Kodi Smit-McPhee) ins Haus kommen. Es ist eine Geschichte der zwischenmenschlichen Spannungen und kleinen Andeutungen. Die Musik von Jonny Greenwood erzeugt eine permanente latente Anspannung. Alles scheint kurz vor der Explosion zu stehen. Lange bleibt ungewiss, wohin die Reise geht. Schafft die letzte Szene Aufklärung? Manche grübeln noch nach dem Ende. Wird bereits in einigen Hauptkategorien als heißer Oscar Kandidat gehandelt.
Benedetta (Paul Verhoeven, F 2021)
Basiert auf der 1986 erschienenen Biografie Schändliche Leidenschaften: das Leben einer lesbischen Nonne in Italien zur Zeit der Renaissance von Judith Cora Brown. Damit ist eigentlich schon viel gesagt.
Eine Nonne (Virginie Efira) in der Toscana des 17. Jahrhunderts wird von klein auf immer wieder mit wundersamen Ereignisse in Verbindung gebracht. Nutzt sie dies letzten Endes zu ihrem Vorteil aus? Darüber muss sich jeder selber ein Bild machen. Interessant sind die Dynamiken unter den katholischen Würdenträgern, die trotz Zweifel aus den Ereignissen Kapital schlagen wollen und mit der Zeit jedenfalls selbst an die Wunder glauben. Viel nackte Haut. Wirkt streckenweise wie eine Altmännerfantasie und zieht sich ewig lang. Letzteres das Problem vieler Filme bei der heurigen Viennale.
Große Freiheit (Sebastian Meise, AUT/D 2021)
Hans Hoffmann (Franz Rogowski) wird 1945 aus dem Konzentrationslager befreit und gleich in ein Gefängnis überstellt. Die Grundlage dafür: § 175. Der setzt gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen zwischen Männern seit 1872 unter Strafe. Von den Nazis verschärft, wurde der Paragraf erst 1994 ersatzlos gestrichen. Bis Ende der 1960er Jahre muss Hans einige Male ins Gefängnis. Dort trifft er immer wieder auf Viktor (Georg Friedrich), der seine Abneigung gegenüber Hans nicht zurückhält. Über die Jahrzehnte verändert sich die Beziehung zwischen den zwei Männern.
Große Freiheit wurde ausgewählt, um Österreich am 27. März 2022 bei den Oscars in der Kategorie Bester Internationaler Film zu vertreten.
The Card Counter (Paul Schrader, USA/GB/CHN 2021)
William Tell (Oscar Isaac – hat wer verstanden, warum er hier so heißt?) schlägt sich als Pokerprofi durch. Er war als Soldat im Irak und auf einem der Videos aus Abu Ghraib zu sehen und kam dafür ins Gefängnis. Jene auf den Aufnahmen wurden belangt. Die Befehlshaber kamen ungeschoren davon. Die posttraumatische Belastungsstörung bekam er als Geschenk vom Vaterland. Eines Tages trifft er auf Cirk (Tye Sheridan), der seinen Vater, ebenfalls in Abu Ghraib stationiert, an Major Gordon (Willem Dafoe) rächen möchte, der damals beide Männer in Foltermethoden trainierte. William ist von dem Plan weniger begeistert. Gleichzeitig bekommt William von La Linda (Tiffany Haddish) das Angebot, bei der World Series of Poker gemanaged zu werden. Das fasst er einen Plan.
Die Kadrierung ist ein Genuss. Die Musik von Jesse Mark Russel (Score) und Robert Levon Been (Original Musik) tut ihr übriges. Schlicht brillant vom ersten bis zum letzten Kader. Ab März 2022 regulär im Kino. Vormerken!
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