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Es begann mit einer sehr unglücklichen Terminkollision: Der Kinostart von Martin Scorseses KILLERS OF THE FLOWER MOON viel genau auf den Tag der Viennale Eröffnung. Genau jener Film nämlich, der diese Tage die Seiten der Zeitungen füllte und in aller Munde war. Das ist marketingtechnisch nicht ideal. Selbst filmaffine Menschen in meiner Umgebung haben die Viennale nicht wirklich wahrgenommen, von anderen gar nicht zu reden. Woran liegt das?

Die erfreuliche Nachricht: In diesem Jahr konnte das Festival noch einmal sowohl die Besucherzahlen als auch die Auslastung auf 75.300 beziehungsweise 76% erhöhen (Zum Vergleich: vor dem Jahr 2000 lagen die Zahlen bei über 90.000 und über 80%). Es ist jedes Jahr aufs Neue schön zu sehen, wenn so viele Menschen in die Wiener Innenstadtkinos strömen. Aber ist das schon alles? Wie sieht es mit der Außenwirkung über das Stammpublikum hinaus aus? Dass dem Festival der eine Stargast abhanden gekommen war, war einfach Pech und außerdem ohnehin nur für Schlagzeilen am Folgetag gut. Dazu ein paar Überlegungen:

  1. Bereits vor Jahren, als Hans Hurch noch die Festivalleitung über hatte, wurde ihm nahegelegt, das Festival mit einem publikumswirksamen Film und entsprechenden Gästen zu eröffnen. Verbindungen und konkrete Vorschläge hätte es gegeben. Leider hatte er kein Interesse. Warum ist das wichtig? Die Medienpräsenz wäre eine ganz andere und hätte Auswirkungen auf die Wahrnehmung der gesamten Dauer des Festivals, selbst bei einem Film mit für die Viennale traditioneller politischer Aussage. Andere Festivals machen es vor. Idealerweise mit einer internationalen Premiere, muss aber nicht sein. Dazu ein Beispiel aus der Sportwelt und warum das Eröffnungsevent wichtig ist: Die Fußball-Europameisterschaft 2008 wurde in Österreich und der Schweiz ausgetragen. Das Finale fand in Wien statt, das Eröffnungsspiel allerdings in der Schweiz. Somit gingen die Bilder von der Eröffnung aus der Schweiz um die Welt. Dass Österreich ebenso Austragungsland gewesen ist, konnte später nicht mehr in dieser Breitenwirksamkeit kommuniziert werden.
  2. Der Viennale täte ein Wettbewerb gut. Auszeichungen sind wichtig, egal was man davon hält. Schließlich zeigt die Viennale auch die Höhepunkte des Filmjahres, darunter alle Preisträger von der Berlinale bis zu den Filmfestspielen von Venedig. Also warum nicht eigene Preise ins Leben rufen? Vergeben von einer Kombination aus Jury und Publikum (nämlich jene, die eine Mindestanzahl an Filmen gesehen haben). Das wertet das Festival auf und wird zudem dem Ruf des Publikumsfestivals gerecht.
  3. Ein übersichtliches Programm. Ohne weitere Recherchen geht man im Programm der Viennale schnell verloren. Die Zusammenlegung von Spielfilmen und dem Dokumentarfilm in die Schiene Features wertet den Dokumentarfilm nicht auf. Es bedeutet nur mehr Zeitaufwand bei der Programmauswahl. Dass sich jemand unbeabsichtigt in einen Dokumentarfilm verirrt, ist eher unwahrscheinlich. Darüber klagen auch jene, die sicher einen besseren Überblick über das Filmjahr haben.
    Darüber hinaus wäre es sinnvoll, wieder die bereits gewonnenen Auszeichnungen anzuführen. Es spricht sich ohnehin herum, welche Filme der großen drei Festivals man gesehen haben muss. Es gibt aber noch viel mehr. Sundance zum Beispiel. Sie sind eine Orientierungshilfe und deswegen werden andere Filme nicht mehr oder weniger gesehen.
    Um die Aufmerksamkeit auf sehenswerte Filme zu lenken, die nicht so im Fokus stehen (aus der Sicht des Festivals sind sie wahrscheinlich alle sehenswert, sonst würden sie nicht gezeigt werden), könnte man doch Filmreihen als Empfehlung zusammenstellen, die sich ergänzen und eine Mischung aus den prominenten Titeln und Neuentdeckungen bilden.
  4. Zu guter Letzt könnte sich die Viennale in Richtung Multiplex-Kinos öffnen, was in Wien gleichbedeutend mit einer Kooperation mit den Cineplexx Kinobetrieben ist. Dafür reicht eine Handvoll publikumswirksamer Filme und im Nu säßen Menschen in der Viennale, die es wohl nie in ein Innenstadtkino verschlagen hätte. Eine eigene Werbelinie und ein eigener Kartenvorverkauf vorausgesetzt.

Der älteste Viennale-Katalog bei uns im Regal ist aus dem Jahr 1997. Die Viennale liegt mir seit jeher am Herzen, darum sei soviel Kritik erlaubt. Wir sehen uns auf der Viennale 2024!

Hier ist ein Überblick über eine Filmauswahl der letzten Tage der Viennale 2023 (Zu Teil 1 geht es hier entlang).

LA PASSION DE DODIN BOUFFANT (TRAN ANH HÙNG, F 2023)

LA PASSION DE DODIN BOUFFANT (TRAN ANH HÙNG, F 2023)

Mehrmals ging ein Seufzen durch die Reihen des gut besuchten Gartenbaukinos. Es war fast Mittag und es machte sich bemerkbar, dass in den meisten Mägen gähnende Leere herrschte. LA PASSION DE DODIN BOUFFANT ist nämlich Foodporn vom Feinsten. Was da an Speisen übergroß auf der Leinwand aufgewartet wird, sucht seines Gleichen. Kein Wunder: als Berater war der französische Starkoch Pierre Gagnaire tätig. Wunderschön von Kameramann Jonathan Ricquebourg in Szene gesetzt. Ohne Filmmusik, allein das Knistern des Feuers oder das Bruzeln in der Pfanne erfüllt den Raum.

Dodin (Benoít Magimel) ist Gastronom. Es ist das ausgehende 19. Jahrhundert und er lebt mit seiner Köchin Eugénie (Juliette Binoche) in einem großen Landhaus. Das Patriarchat ist stark ausgeprägt. Obwohl den männlichen Gästen Dodins bewusst ist, wer hinter den Gerichten steckt, bleibt Eugénie in der Küche und sitzt nie mit ihnen am Tisch. Über die Jahrzehnte hat sich zwischen Dodin und Eugénie eine innige Beziehung entwickelt und Dodin wird nicht müde, sie zu umwerben. Jahrelang lehnt sie jedoch jeden Gedanken an Heirat ab.

Man kommt nicht umhin, daran zu denken, dass Binoche und Magímel vor 20 Jahren für ein paar Jahre ein Paar gewesen sind. Bei den Dreharbeiten zu DAS LIEBESDRAMA VON VENEDIG hatten sie sich 1997 kennengelernt. LA PASSION DE DODIN BOUFFANT ist erst ihr zweiter gemeinsamer Film. Nun sehen wir sie als Paar, dass bereits gut 20 Jahre zusammen ist. Das fügt dem Film eine spannende Ebene hinzu.

In Frankreich hat man dem Film überraschenderweise gegenüber dem Gewinner der Goldenen Palme ANATOMIE D’UNE CHUTE den Vorzug für die Oscars 2024 gegeben. Meiner Meinung nach zurecht. Vor allem auch, weil hier jene Speise gehuldigt wird, die den gesamten Schlemmereien um nichts nachsteht: die Eierspeise. Am besten gegessen mit Löffel.

Tran Anh Hùng wurde bei den Filmfestspielen von Cannes als bester Regisseur ausgezeichnet.

THE REEL THERAPIST Wertung: ★★★★ ½

Kinostart: 29. Februar 2024 unter dem Titel GELIEBTE KÖCHIN.

THE OLD OAK (KEN LOACH, GB 2023)

THE OLD OAK (KEN LOACH, GB 2023)

Ken Loach ist das soziale Gewissen des Kinos. In THE OLD OAK stellt er ein ehemalig florierendes Bergarbeiterdorf und den Problemen und Sorgen dessen BewohnerInnen den Nöten syrischer Flüchtlinge gegenüber. Ein interessanter Blickwinkel aber alles in allem nicht ausgereift genug und vor allem gegen Ende hin unfertig.

Bei der Viennale war es der diesjährige Überraschungsfilm. Also keine leichte Kost wie sonst. Die Euphorie zu Beginn war enden wollend.

Der 87-jährige Ken Loach hat angekündigt, dass THE OLD OAK sein letzter Film sein wird.

THE REEL THERAPIST Wertung: ★★★

Kinostart: 24. November 2023

RICKERL von Adrian Goiginger (A 2023)

RICKERL (Adrian Goiginger, A 2023)

Vodoo Jürgens und sein Filmsohn Ben Winkler haben das Viennale Publikum im Sturm erobert. Adrian Goiginger ist ein ganz besonderes Porträt über einen sich durchs Leben kämpfenden Wiener Musiker gelungen. Dabei packt er Wien sozusagen an den Wurzeln der Sprache. Bekannte Straßenmotive sucht man vergebens. Die Locationscouts haben eine hervorragende Arbeit geleistet, um Wien so zu zeigen, wie es wahrscheinlich nur WienerInnen kennen. Mit RICKERL taucht man so richtig ein in das Leben des Protagonisten und die Hauptstadt. Und soviel geraucht wurde schon lange nicht mehr!

THE REEL THERAPIST Wertung: ★★★★

Kinostart: 18. Jänner 2024

POOR THINGS (Yorgos Lanthimos, 2023) – VIENNALE 2023

POOR THINGS (YORGOS LANTHIMOS, UK 2023)

Yorgos Lanthimos (THE KILLING OF A SACRED DEER, THE FAVOURITE) setzt mit seinem achten Spielfilm seinen kreativen Siegeszug fort. In POOR THINGS kombiniert er das Motiv von Frankenstein mit den utopischen Welten Jules Vernes und verknüpft es sie zu einer Emanzipationsgeschichte. Emma Stone als Bella ist ein Experiment ihres Schöpfers Dr. Goodwin „God“ Baxter, gespielt von Willem Dafoe. Drehbuchautor Tony McNamara hat für Stone so etwas wie die Rolle ihres Lebens geschaffen. Ihr körperlicher Einsatz ist beachtlich.

Nach einem Suizid verpflanzt Baxter Bella das Hirn eines Babys. Ihres ungeborenen Babys um genau zu sein. Es beginnt ein langer und beschwerlicher Weg Richtung Emanzipation, der Bella rund und die Welt durch futuristische Settings führen wird (als anfänglicher Begleiter ebenfalls großartig: Mark Ruffalo).

Alles an POOR THINGS ist extravagant. Hatte sich Lanthimos bisher mehr auf geschlossene Räume fokussiert, in denen Weitwinkel und Fischaugeobjektive zum Einsatz kamen (sowie auch hier), so öffnet sich uns hier eine vollkommen neue Welt mit utopischen Sets von Alexandria bis Paris.

Diesmal gibt sich Lanthimos humorvoller und weniger bedrückend als in so manchen früheren Arbeiten. Ein Film, der noch länger in unseren Köpfen bleiben wird, auch wenn die Erzählperspektive trotzdem eine sehr männliche ist.

Yorgos Lanthimos hat für POOR THINGS bei den Filmfestspielen von Venedig den Goldenen Löwen erhalten. Anzunehmen, dass der Preisregen anhalten wird.

THE REEL THERAPIST Wertung: ★★★★

Kinostart: 18. Jänner 2024

DIE THEORIE VON ALLEM (Timm Kröger, 2023) – VIENNALE 2023

DIE THEORIE VON ALLEM (TIMM KRÖGER, D, A, CH 2023)

Johannes reist mit seinem Doktorvater Julius Strathen zu einem Physikerkongress in die Schweiz. Doch der mit Spannung erwartete Vortrag über Quantenmechanik eines iranischen Wissenschaftlers kann vorerst aufgrund von Visaproblemen nicht stattfinden. Johannes, der eine für seinen Professor viel zu gewagte Theorie aufzustellen versucht, beobachtet nicht nur auffällige Wolkenfelder, sondern auch allerhand seltsame Vorkommnisse. Er macht die Bekanntschaft mit der geheimnisvollen Pianistin Karin, die bald darauf verschwindet. Dann wird ein getöteter Wissenschaftler aufgefunden. Johannes glaubt, die Lösung im Inneren des Berges zu finden.

Die Schweizer Landschaft in sattem schwarzweiß gibt visuell ordentlich was her. Überhaupt hat sich Kröger stilistisch an den Filmen der Zeit orientiert, was sehr gelungen ist. Die Musik kommt allerdings mit dem Holzhammer daher. Zumindest in der Vorstellung bei der Viennale war sie viel zu laut und aufdringlich. Hier wird zwanghaft versucht Spannung zu erzeugen, wo keine ist. Am Ende entsteht der Eindruck, dass man sich hier inhaltlich übernommen hat. Schlüssig ist das alles nicht, bzw. läuft die Geschichte auf ein Geheimnis hinaus, dass man schon bald erahnen kann.

THE REEL THERAPIST Wertung: ★★★

Kinostart: 10. November 2023

SIMPLE COMME SYLVAIN (Monia Chokri, CA/F 2023)

SIMPLE COMME SYLVAIN (MONIA CHOKRI, CA/F 2023)

Ist es eine Frage des Alters oder spielt es doch auch ein Rolle, dass via Streaming auch zu Hause ein großes (wenn auch Qualitativ sehr durchwachsenes) Angebot zur Verfügung steht aber ich ertappe mich immer wieder bei dem Gedanken, ob ein Kinobesuch den Aufwand Wert war. Gegen Ende der Viennale war SIMPLE COMME SYLVAIN so ein Film, in dem sich eine rund 40-Jährige Akademikerin einem Handwerker hingezogen fühlt und folglich zwei Welten aufeinander prallen.

Im französischen Original mit englischen Untertiteln, die leider mangels freier Sicht auf die Leinwand kaum zur Gänze lesbar waren, hatte die Komödie kaum etwas zu bieten, das man nicht schon kannte und somit auch nicht mehr war als zwei Stunden Unterhaltung.

THE REEL THERAPIST Wertung: ★★★

Kinostart: unbekannt

YANNICK (QUENTIN DUPIEUX, F 2023)

YANNICK (QUENTIN DUPIEUX, F 2023)

Wer ist schon einmal in einem Theaterstück oder Film gesessen und hat sich gedacht, den Weg hätte ich mir sparen können. Vielleicht noch extra einen Babysitter organisiert und dann sowas. Im diesjährigen Abschlussfilm ist es Yannick, gespielt von Raphaël Quenard, der so gar nicht zufrieden ist mit dem, was er da in einem alten Pariser Theater geboten bekommt. Sein Leben sei schon trist genug. Eine Aufheiterung hatte er sich gewünscht. Stattdessen fühlt er sich noch schlechter als davor. Nun, er lässt es die Schauspieler und das Publikum auch sogleich wissen. Er steht auf und fängt eine Diskussion über die Qualität des Stücks an.

Yannicks naive Unbekümmertheit ist herzzerreißend. Nach und nach lädt sich die Stimmung immer mehr auf und als sich herausstellt, dass er bewaffnet ist, droht die Situation zu eskalieren. Yannick lässt sich aber nicht aus dem Konzept bringen und fängt an, ein Stück nach seinem Geschmack niederzuschreiben. Unglaublich skurril und komisch. Ein Dupieux vom Feinsten.

THE REEL THERAPIST Wertung: ★★★★

Kinostart: unbekannt


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